Christo und Jeanne Claude

Süssmuth: Verhüllter Reichstag zeigte anderes Deutschland 

Der von Christo und Jeanne Claude verhüllte Reichstag begeisterte Millionen. Das vor 25 Jahren realisierte Projekt hatten führende Staatsmänner mehrfach abgelehnt. Erst Rita Süssmuth schaffte den Durchbruch. Ein Interview mit ihr ein Vierteljahrhundert später

Die als "Wrapped Reichstag" bezeichnete Verhüllung des späteren Bundestages gilt als eines der wichtigsten Kunstprojekte von Christo (gestorben 2020) und Jeanne-Claude (gestorben 2009). 

Der vor 25 Jahren für zwei Wochen (24.6. bis 7.7.1995) realisierten Aktion gingen Jahrzehnte Planung und Ablehnung voraus. Erst die damalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth setzte das Projekt mit Parlamentsmehrheit auch gegen den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl und den damaligen Fraktionschef Wolfgang Schäuble (alle CDU) durch. Süssmuth erinnert sich im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur an das schwierige Projekt.

Frau Süssmuth, wann haben Sie erstmals von Christos Arbeiten gehört?

Als Historikerin habe ich viel Zeit in Paris verbracht, wo es damals um Christos Projekt der Verhüllung von Pont Neuf ging. Das war ein Erlebnis für die Franzosen, hatte aber nicht diese Bedeutung in Deutschland. Ich wusste um die Bedeutung Christos, aber nicht, wie viele Versuche er schon unternommen hatte in Deutschland. 

Was hat Sie an dem Projekt "Verhüllter Reichstag" fasziniert?

Christo war selbst aus seiner bulgarischen Heimat geflohen und in den Westen gekommen. Der Reichstag mit all den Verwirrungen, dem Brand, der Annahme, dass er nie wieder in Erscheinung treten sollte, der Reichstag in einem geteilten Deutschland - es war für mich ein politisches Projekt, das nicht nur Größe hatte, sondern eine eigene, friedliche Botschaft an Berlin und die Welt. Das war nicht das aggressive Deutschland. Es war eine Botschaft von Kunst und Kultur, die in die Welt ausstrahlte. 

Hatten Sie selbst Bedenken? 

Nein, ich war begeistert von den Möglichkeiten, die in diesem Projekt steckten. Für unser Land, für die Menschen hier und für die Menschen jenseits von Deutschland. Für die Nachbarländer, für Frankreich, die USA - weil es ein anderes Deutschland präsentierte und uns selbst aufzeigte, der Reichstag kann etwas anderes sein als nur eine große majestätische Gestalt. 

Hat Sie der Gegenwind überrascht?

Wenn ich mir all die massive Kritik und die Widerstände im Vorhinein klargemacht hätte, hätte ich mich hinhocken können und darüber nachdenken: Willst du es noch? Aber das Ausmaß des Widerstandes hatte bei mir nicht die Vorhand. Dominierend war, dieses Projekt verwirklichen zu können in Verbindung mit der zuvor wiedergewonnenen Einheit. 

Wie hat der Widerstand auf Sie gewirkt?

Als die Entscheidung kam, das müsse im Bundestag abgestimmt werden, habe ich mich gefragt, ob wir es schaffen. Insbesondere auch Bundeskanzler Helmut Kohl war nicht überzeugt, dass der Reichstag verhüllt werden sollte. Mit der geforderten namentlichen Abstimmung konnten sie genau kontrollieren, wo die Stimmen herkamen. Kohls Hoffnung auf ein Scheitern des Projekts war, dass sich die Regierungsmehrheit in der Entscheidung widerspiegeln würde. 

Ging es dabei auch um die 13 Millionen Dollar für das Projekt?

Es hat das Parlament ja nichts gekostet, das hat alles Christo bezahlt. Das hat er alles mit seinen Zeichnungen, Skizzen und Entwürfen eingebracht. Es war also nicht eine Geldfrage, sondern wirklich eine Grundsatzfrage, ob ein Gebäude wie der Reichstag Gegenstand einer Verhüllung sein kann. Er kann. Und diese Botschaft hat damals auch ein ganz anderes Bild von Deutschland vermittelt. 

Für und Wider ging durch alle Fraktionen. Was gab den Ausschlag?

Diese Reden, die für mich auf so übertriebene Weise einen sakrosankten Reichstag betonten, führten nach meiner Einschätzung dazu, aus diesem überzogenen Nein doch dafür zu stimmen. Dies Glück haben wir gehabt. Es waren 292 Pro und 223 Kontra. Ich brauche nicht zu betonen, wie befreiend dieses Abstimmungsergebnis war.

Wie haben Sie die zwei Wochen des Kunstwerks erlebt?

Die Besucher dort waren in Stille schauende, nachdenkliche, staunende Menschen. Es brachte viele Fremde und Einheimische nach Berlin und war also zugleich auch ein kultureller Austausch vor Ort. Am schönsten war der Reichstagsrasen, auf dem die Menschen lagen und sahen, wie dieses Kunstwerk als Parlamentsgebäude untätig und doch so wirksam war.

Was bleibt vom Projekt "Wrapped Reichstag"?

Diese Augenblicke haben in einer kurzen Zeit Langzeitwirkung geschaffen. Die kleinen Stoffteilchen, die Christo verteilt hat, haben heute in vielen Wohnungen besonderen Stellenwert. Das ist eine Lebenszeiterinnerung. Es hat eine Wirkung sowohl für diejenigen, die es erlebt haben, aber auch für diejenigen, die heute den Bundestag besuchen und mit der Idee nach so langer Zeit konfrontiert werden.