"Der Mensch lebt nicht vom Brot allein …" Jesu Mahnung an seine Jünger, dass materielle Bedürfnisse nicht alles sind, hat augenscheinlich Pate gestanden für den Namen, den sich das Rigaer Kunstfestival Survival Kit gegeben hat. Mit seiner Gründung 2009 reagierte die lettische Kunstszene auf die internationale Finanzkrise, die auch ihre Heimat getroffen hatte. Mit der Initiative wollte sie dem Umbruch das Überlebensmittel kulturelle Reflexion entgegensetzen – und nicht nur auf Batterien, Kekse und Werkzeuge vertrauen, die sonst in Not-Paketen zu finden sind.
"Kunst nur um ihrer selbst willen – das ist nicht mein Anspruch", erklärt Solvita Krese ihren Ansatz. Die Kulturmanagerin, Kritikerin und Kuratorin, Chefin des Lettischen Zentrums für Gegenwartskunst (LCCA), das Survival Kit ausrichtet, glaubt daran, dass Kunst etwas in der Gesellschaft bewegen kann und muss, "und wenn es nur bei einem Einzelnen ist". Wie viel das kleine Avantgarde-Festival tatsächlich zum Überleben am Rande von Europas Nordosten beigetragen hat, lässt sich schwer bemessen. Aber die Tatsache, dass es mit dem lächerlichen Etat von 150.000 Euro ohne Unterbrechung 16 Ausgaben auf die Beine gestellt hat, ist zumindest ein Beweis für den intellektuellen Überlebenswillen im Baltikum.
Die 2018 gegründete Riga-Biennale, vom russischen Fischfabrikanten Gennadi Mirgorodski für seine kunsthistorisch interessierte Tochter Agnija finanziert, musste nach zwei Ausgaben 2023 infolge von Pandemie und wachsender Russophobie schließen. An ihre Stelle ist das zivilgesellschaftliche Survival Kit getreten, das sich inzwischen zu einem der wichtigsten Kunstfestivals im Drei-Länder-Areal mit rund sechs Millionen Einwohnern entwickelt hat.
Kein bloßes Krisentherapeutikum
Dass es sich längst nicht mehr bloß als regionales Krisentherapeutikum versteht, zeigt nun die 16. Ausgabe. Nach diversen Off-Spaces wie Rigas historischen Markthallen oder einer leerstehenden Universität eröffnete das Festival Ende August in der alten Textilfabrik Rīgas adītājs im ehemaligen Arbeiterviertel Grīziņkalns. Nach der Schließung der Produktion 1990 wird der Komplex im Nordosten der Hauptstadt zur "Creative City Grīziņdārzs" umgebaut.
Der kryptisch klingende Titel "House of See More" nimmt das Motiv des Vogels als Krisenheiler auf. "Mehr sehen" spielt auf ein Wundertier aus dem lettischen Sagenschatz an, das dem blinden König die Augen öffnet. Und sich mühelos als Kritik der von bornierten alten Männern dominierten Weltpolitik lesen lässt.
Das Berliner Kunstkollektiv Slavs and Tatars rund um Kasia Korczak und Payam Sharifi, die das Festival ko-kuratiert hat, kombiniert diese Figur mit der des Vogels Simurgh aus der türkisch-persischen Mythologie. Das hybride Fabelwesen erscheint meist halb als Hund, halb als Frau, am Fuß trägt es Pfauenfedern.
Emanzipation von der toxischen Männlichkeit
Als Symbol der mystischen Seelenwanderung steht der Vogel mit den übernatürlichen Kräften für das Prinzip Selbstvervollkommnung und Selbsterkenntnis. Diesen geschlechtlich uneindeutigen Simurgh stellt das Kollektiv dem Adler der westlichen Tradition entgegen. Sharifi sieht den martialischen Greifvogel als "Symbol der toxischen Männlichkeit", von dem es sich zu emanzipieren gelte.
Die Anleihe des Kunstkollektivs beim fernöstlichen Mythenschatz passt zu der Idee, die sich das Survival Kit auf seine ideologischen Fahnen geschrieben hat. "Wir suchen nach einem Weg zwischen westlicher Hegemonie und russischem Imperialismus hin zu einem Transnationalismus und neuer Solidarität", beschreibt LCCA-Direktorin Krese ihr Anliegen. Und es passt zum Selbstverständnis von Slavs and Tatars. Will das Kollektiv doch das Gebiet "östlich der Berliner und westlich der Chinesischen Mauer, bekannt als Eurasien" künstlerisch neu vermessen.
Es lässt sich lange über Sinn und Unsinn der kursorischen Arbeit von Künstlerinnen und Künstlern streiten. Noch dazu, wenn diese sich dann selbst in das von ihnen kuratierte Festival integrieren. Aber Slavs and Tatars' eigene Skulptur "Stilettos", eine Skulptur aus blauem Glas, die eine Kralle des Vogels Simurgh mit rot manikürten Nägeln darstellt, kehrt auf eindrücklich poetische Weise das Genderfluide der Figur hervor.
Eine Atmosphäre der Angst
Mit ihren suggestiven Arbeiten unterminiert die ukrainische Künstlerin Oksana Shachko die religiös fundierte Orthodoxie Ost: In ihre Tableaus im Stil der klassischen Ikonenmalerei baut sie unmerkliche Verfremdungen ein: Bei einer Kreuzigungsszene hängt eine Frau an dem Holzgeviert, beim Mann neben ihr ist der Penis erigiert, charakteristisch für den Tod durch Erhängen.
In ihrer Eröffnungs-Performance "Lonesome Wing" nahm die polnische Künstlerin Nadia Markiewicz die Idee des Vogels als Retter auf. Mit einem Flügel aus weißen Federn, den sie an ihrem Arm wie eine Prothese trägt, erweckt sie die Erinnerung an eine gleichnamige Figur aus ihrer Heimat. Der Legende nach kam er mit einer ebensolchen Schwinge als Extremität zur Welt.
So sehr das Festival einen Ausweg aus den zivilisatorischen Dilemmata sucht, so wenig konnte es von dem Kontext abstrahieren, in dem es stattfindet. Auf den ersten Blick präsentiert sich Riga im September als quirlige baltische Metropole, die die letzten Sommertage beim übermütigen Public Viewing einer Basketball-EM in der historischen Altstadt genießt. Aber die russische Grenze ist eben nur rund 270 Kilometer entfernt. Wie sehr die Angst vor einem Angriff das tägliche Lebensgefühl grundiert, wird deutlich, wenn Festivaldirektorin Austra Bērziņa erzählt, dass sie seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine unter Schlafstörungen leidet. Im Keller ihres Hauses hat sie einen Schutzraum angelegt. Manche Rigaer verzichten angesichts der unsicheren Lage darauf, ihre Häuser zu renovieren.
"Die Traumata der vergangenen Generationen sind wiedergekehrt"
Die lettische Kunstszene ist per se nicht so russophob wie die Öffentlichkeit vor drei Jahren. Unmittelbar nach Kriegsbeginn verschaffte sich der Zorn auf den Aggressor in dem Schleifen des 80 Meter großen Sieges-Obelisken in Riga Luft, der an den Sieg der Roten Armee über Nazi-Deutschland erinnerte. Aber viele Kulturschaffende mögen derzeit auch nicht mit russischen Freundinnen deren Sprache sprechen.
Diese unterschwellige Spannung spiegelt sich auch in den Kunstwerken des Survival Kit. In ihrem Video "You shouldn’t have to see this" haben Roman Khimei und Yarema Malashchuk aus Kiew den Schlaf von Kindern dokumentiert, die gewaltsam nach Russland entführt und später wieder zurück in die Ukraine gebracht worden waren. In der Ölmalerei der ukrainischen Künstlerin Sana Shamaruakova Danska winden sich halb-abstrakte, ineinanderfließende Figuren wie in einem ewigen Schmerz. "Die Traumata der vergangenen Generationen sind wiedergekehrt", sagt die Künstlerin dazu, "der Aggressor ist seit Jahrhunderten der Gleiche geblieben".
Weit ist also noch der Weg zu dem pantheistisch-mythischen Märchenland, das Marje Taska beschwört. Auf den Wasserfarben-Bildern der schwedisch-estnischen Künstlerin verschlingen sich im Zentrum ihrer aus geometrischen Linien konstruierten Landkarten amorphe pastellfarbenen Formen aus Menschen, Tieren und Pflanzen zu einer neuen Welt. In ihr sind Ebbe und Flut, Männliches und Weibliches, Gutes und Böses in ständiger Bewegung unauflöslich verknüpft.