Künstler Thomas Scheibitz über Ost und West

"Es ist schwierig, Kunst nach einer geografischen Herkunft zu beschreiben"

Thomas Scheibitz
© Atelier Scheibitz

Thomas Scheibitz

Gibt es überhaupt eine Ostkunst? Und warum reden wir 35 Jahre nach Mauerfall noch immer über Unterschiede? Wir fragen ostdeutsche Kulturschaffende. Den Auftakt macht der Maler und Bildhauer Thomas Scheibitz

Thomas Scheibitz, gibt es überhaupt eine ostdeutsche Kunst, die sich formal, inhaltlich, ästhetisch von einer westdeutschen Kunst unterscheidet?

Es ist generell schwierig, Kunst nach einer bestimmten geografischen Herkunft zu beschreiben. Hier haben oder hatten wir es mit einem geteilten Land zu tun, das aus einer reichen künstlerischen Tradition kommt. Widersprüchliches und Gegensätzliches hat nebeneinander, parallel existiert, wenn ich mir nur das Bauhaus und den Expressionismus anschaue. Nach dem Zweiten Weltkrieg und einer Stunde Null kommt dann in dem geteilten Land eine Ideologie dazu. Kunst bekommt einen Auftrag, hat eine Funktion zu übernehmen. Alles nicht so gut. Ich würde die Frage also so beantworten: Formalien, Inhalt und Ästhetik sollten sich unabhängig von jeglicher ideologischen Beeinflussung verhalten. Die Kunst nach 1945 im östlichen Teil ist da ganz sicher schwer beeinflusst worden, auch in einen schlicht illustrativen Teil. Die Kunst in Westdeutschland nach 1945 ist sicher in großen Teilen ideologiefrei, hat aber ökonomische Regeln und Abhängigkeiten zu erfüllen oder im Einzelnen auch Therapeutisches.  

In der populären Musik sehe ich solche Unterschiede, zum Beispiel was die Ausbildung angeht. Klischeehaft überzeichnet: Während im Osten studierte Musiker mit staatlich-offizieller Spielerlaubnis rockten, dilettierten im Westen die Krautrocker im Untergrund, waren aber damit dichter an der Essenz von Rock'n'Roll dran. Stimmst du dem zu und kann man die Kunstszenen in der DDR analog dazu beschreiben?

Die bildende Kunst ist vielleicht etwas anders zu betrachten als die darstellende Kunst oder die Unterhaltungsindustrie. Die Erlaubnis, etwas zu tun, zu spielen oder zu malen ist schon mal absurd, egal ob man eine Ausbildung hat oder nicht. Am Ende geht es darum, Erlebnisse umzusetzen, die nicht nur ein Handwerk brauchen, um umgesetzt zu werden. Rock'n'Roll ist nicht studierbar oder erlernbar – der Gedanke lässt mich hoffnungsvoll in die Zukunft schauen.

Es gab in der DDR spätestens ab den 1980er-Jahren eine freie Kunstszene, in der man oft nichts oder nur wenig verdiente, und auf der anderen Seite die offizielle Staatskunst, in der die Künstlerinnen und Künstler Professuren und staatliche Aufträge und somit ein gutes Auskommen hatten. Damals waren Sie noch im Studium, aber können Sie dennoch einmal den Spirit erläutern? Wie blickte man da gegenseitig aufeinander?

Ich bin vielleicht etwas zu jung, um da wirklich einen Eindruck zu haben. Ich war 20 Jahre, als die Mauer fiel. Aber eins habe ich gesehen und das ist bis heute nicht sehr viel anders: Auftragskunst oder Kunst, die von einem Staat beziehungsweise seinen Organen oder Institutionen in Auftrag gegeben wird, ist nie ganz auf dem Punkt. Das Geld wärmt vielleicht das Gemüt — ist aber ein Pakt mit Mephisto.

Sie meinen das Geld, das man durch Staatsaufträge verdient oder das man am Markt, im Westen also verdient?

Ja!

Dass die Staatskunst Themen, gesellschaftliche oder politische, behandelte, liegt nah. Gab es auch Themen der freien Szene? Und wenn ja, welche? 

Jedes Thema, was mich in der Kunst interessiert, ist eigentlich eine Übersetzung von einem Erlebnis, um es mal etwas trockener zu formulieren. Je allgemeiner das ist, umso präziser ist es. 

Nochmal anders formuliert: Können Sie im Rückblick auf die 80er-Jahre ein Überthema, eine Idee, eine Haltung ausmachen, an dem sich die freie Szene abgearbeitet, mit der sie sich identifiziert hat? Und welche Felder hat die Staatskunst beackert?

Für mich war und ist die Kunst sinnlos, aber nicht sinnfrei. In geschlossenen Gesellschaften bekommt die Kunst eine unfreiwillige Aufgabe. Sie muss Unterdrücktes verarbeiten, sich verstellen oder in Rätseln, zwischen den Zeilen, in Opposition gehen oder als Gegenteil, ideologische Abziehbilder bauen.

Welche Haltung hatte man inne, welchen Kunstbegriff, wenn man auf der einen Seite in der freien Szene agierte, welche auf der anderen, der Staatkunstseite? Und wie wichtig war Haltung? Besser: Inwiefern unterschieden sich die Haltungen der Künstlerinnen und Künstler?

Haltung ist alles! 

Der Maler und Professor Johannes Heisig aus Dresden hat mir erzählt, dass man nicht so viele Freidenker, Künstler, Bohème-Typen, die keiner ordentlichen Proletarierarbeit nachgehen, in der Großstadt haben wollte, weswegen diejenigen Kunsthochschulabsolventen, die man nicht mit Professuren und anderen Stellen versorgen konnte, aufs Land geschickt wurden. Welche Unruhe kann von Künstlerinnen und Künstlern ausgehen? Warum fürchten sich autoritäre Staaten vor ihnen? 

Johannes Heisig ist für mich auch eine sehr illustrative Figur in der Malerei, die sich sehr wohl gefühlt hat in vorgegebenen Themen und mit Themen, die die Vorgabe als Anlehnung brauchen. Das ist nicht ganz so meine Sache. Aber natürlich ist es so, dass Kunst und der Diskurs etwas mit Metropolen oder Städten zu tun hat. In den Städten ist eine andere Verdichtung von jeglichen Problemen oder Umständen zu sehen. Damit ist es interessanter. Um Durs Grünbein zu zitieren: "Kunst ist die einzige Angelegenheit vor der sich Ideologien fürchten." Schriftsteller sind die gefährdetsten, neben bildenden Künstlern. Die, die "unterhalten", kommen manchmal noch durch.

Warum ist das so?

Ideologen haben Angst, sind unsicher und zwanghaft. Die Kunst behauptet das Gegenteil und ist deshalb gefährlich.

Ihren großen Erfolg konnten Sie ab Mitte der 90er-Jahre auch in den USA feiern. Was hat die US-Amerikaner an Ihnen, aber auch anderen ostdeutschen Malern wie etwa Neo Rauch fasziniert?

Da muss man noch unterscheiden zwischen dem finanziellen Erfolg, der ja bei einigen Künstlern und Künstlerinnen aus Leipzig sehr, sehr groß ist, und dem Diskurs oder der Relevanz. Da finde ich es nicht so beeindruckend bei den genannten Namen. Ich hoffe für mich, dass ich der Malerei und der Skulptur etwas hinzufügen kann, auch wenn es nicht gleich finanziell belohnt wird. In den 90-Jahren war an Schauplätzen der Kunstwelt wie New York einfach auch ein Interesse an Dingen vorhanden, die man lange nicht gesehen hat oder beobachten konnte. Diese Tendenzen gehen ja bis heute weiter - im Moment ist es sicher der "globale Süden" und die Interpretation der Kunst durch Umstände, die exotisch, therapeutisch oder kurzfristige sind für ein Auge aus der sogenannten ersten Welt - was ein schrecklicher Begriff ist

Kann es auch was mit dem Freiheitsnarrativ der US-Amerikaner zu tun haben, das sie in der friedlichen, ost-deutschen Revolution von 1989 widergespiegelt fanden? Und auch an einem Faible für handwerkliche Meisterschaft?

Ich bin mir nicht sicher, ob der US-Amerikaner wirklich so an der Sache interessiert war. In Unterhaltungen in New York oder Los Angeles sehe ich bei diesem Thema große Lücken.

Gab es zu DDR-Zeiten eigentlich einen Austausch mit den Kunstszenen anderer Länder? Offiziell hielt man die internationale Völkerfreundschaft hoch, in den Schulen wurde hingegen nicht einmal die Sprache des Nachbarlandes Polen gelehrt. Wie sah das auf kultureller Seite aus? 

Ein Austausch mit Kunstszenen anderer, offiziell befreundeter Länder hatte immer einen komischen Beigeschmack, weil man hat ja unter den gleichen Umständen geschaffen und produziert. Ich erinnere mich noch schwach an Ausstellungen mit bulgarischer Druckgrafik, Plakatkunst aus Ungarn oder eben diese unfassbaren Denkmäler aus der ehemaligen Sowjetunion. Was die Sprache anging war Russisch die ausgedachte Weltsprache östlich der Mauer.

Interessanterweise sind die Plastiken der jugoslawischen Kunstgeschichte abstrakt und nicht sozialistisch-realistisch.

Das ist eine interessante Sache. Bogdan Bogdanović ist so eine vielfältige Figur. Abstraktion, Ideologie und Brutalismus gehen da eine Symbiose ein, die manchmal zeitlos wirkt.

Als Sie als junger Mann und angehender Künstler nach Dresden kamen, gab es da schon eine Szene, zum Beispiel die Autoperforationsartisten um Else Gabriel, Via Lewandowsky und andere. Können Sie bitte Ihre damalige Faszination für diese Gruppe beschreiben? 

In Dresden um 1987/1988 herum war ich erst in einem "Zeichenzirkel", wie das damals hieß, und dann in der Abendschule, dreimal die Woche nach der Arbeit. Gearbeitet habe ich in einem Kombinat als Werkzeugmacher und Schlosser. In dieser Abendschule war es leicht, sich mit Informationen für damals besondere Dinge zu versorgen. Ich habe Plakate gesehen und man munkelte über coole Dinge aus der Bühnenbild-Abteilung der Kunstakademie. Die Diplomverteidigung von Rainer Görß oder den Autoperforationsartisten war großes Kino, war ungewohnt performativ und hat mich sehr getroffen, in einem positiven Sinn. Ich hatte den Eindruck, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein. Ich glaube auch beobachtet zu haben, dass die Akademie und deren Mitstreiter total verunsichert waren. Die einzelnen, auch formalen Ideen, die Objekte und der Klang des Ganzen war eine der wichtigsten Erlebnisse für mich in dieser Zeit. 

Ich habe neulich eine Ausstellung mit Filmen der Performances der Autoperforationsartisten im Berliner Kunstverein Ost, dem KVOST, gesehen. Auch viele Stasi-Dokumente lagen da, in denen die Ausstellungen und Aktionen der Gruppe in feinstem Beamtendeutsch beschrieben wurden. Hinterher dachte ich, diese fiese, kleingeistige und kleinbürgerliche DDR-Diktatur, die jungen Menschen hinterherschnüffelt und gegen sie intrigiert, die ist tot. Aber die Kunst der Autoperforationsartisten wirkt immer noch frisch. 

Die Ausstellung war wirklich sehr gut und wichtig – eigenartig, dass das so spät gezeigt wird. Das gehört eigentlich auch in ein Museum. Die dort gezeigten Dokumente zeigen für mich den Mut, den man braucht, sich gegen etwas aufzulehnen oder eben auch, um das zu machen, was einen bewegt. Es gibt das Zitat von Heiner Müller: "Die Behinderung von Kunst ist kriminell." Das dürfte bis heute gelten. Ich denke auch, dass es immer wieder Spuren von Dingen geben wird, die wichtig sind. Da kann man gut der größeren Kunstgeschichte vertrauen. Es kommt alles wieder, nichts ist wirklich abgeschlossen.

Daran anschließend: Wo finden Sie in der gegenwärtigen Kunstszene ostdeutsche Kontinuitäten?

Ich hoffe, "ostdeutsche" oder "westdeutsche" Kontinuität gibt es nicht. Ich hoffe, es gibt subtile Beobachtungen, neu oder nicht, die die Kunstgeschichte im Auge behalten, sich aber mit der Zukunft beschäftigen.


Jan Kage ist Autor, Moderator, Kurator und Musiker. Seit 2010 leitet er den Kunstraum Schau Fenster und seit 2018 die Galerie Kanya&Kage in Berlin. Kage hat mehrere Bücher und Schallplatten veröffentlicht und Ausstellungen im In- und Ausland kuratiert. Seine Sendung Radio Arty wird seit 2009 wöchentlich sonntags auf FluxFM ausgestrahlt. Jan Kage hat an der Humboldt Universität Berlin Soziologie und Politikwissenschaften studiert.