"Fortnite"-Konzert mit Travis Scott

Die Hip-Hop-Avantgarde

Mit seinem Live-Auftritt beim Onlinespiel "Fortnite" hat der Rapper Travis Scott neue Maßstäbe gesetzt und bewiesen: Hip-Hop erschließt sich immer wieder neue Räume

Spielstätten und Bühnen sind noch immer geschlossen. Live-Musik pausiert und performt wird bitte nur noch vor der Kamera und im Stream. Für Musiker ist die Situation existenzbedrohend. Und im selben Moment gelingt es dem Rapper Travis Scott, seinen bisher zuhörerstärksten Auftritt abzuliefern: Über 12,3 Millionen Spieler haben gleichzeitig an dem "Fortnite"-Event "Astronomical" teilgenommen und sind Zeugen der bisher größten Live-Musik-Performance der Geschichte geworden.

Bei "Fortnite" handelt es sich um ein Online-Videospiel, das seit seinem Marktlaunch im Jahr 2017 weltweit über 250 Millionen Registrierungen und fast 80 Millionen monatliche Spielerinnen und Spieler verzeichnen kann. In kürzester Zeit avancierte das shooter-basierte Online-Erlebnis zu einer der größten und finanzstärksten Communitys innerhalb der Gaming-Szene: Beim "Fortnite World Cup 2019" konnten von den 40 Millionen Teilnehmern Preisgelder in Höhe von insgesamt 30 Millionen US-Dollar erspielt werden.

Travis Scott (alias Cactus Jack und La Flame) zählt zu den erfolgreichsten US-Rappern der Gegenwart, arbeitet mit anderen Rap-Größen wie Drake, Kanye West oder Kendrick Lamar und beweist regelmäßig, dass sein persönliches Interesse über die ohnehin dehnbaren Elemente von Hip-Hop-Kultur hinausgeht. Gemeinsam mit The Weeknd und Künstlerin SZA produzierte er beispielsweise Musik für die HBO-Serie "Game of Thrones" oder landete 2019 an der Seite von Internetberühmtheit Tyler "Ninja" Blevins, Drake und JuJu Smith-Schuster einen viralen Hit auf der Spiele-Streaming-Plattform Twitch.

Abgesehen von seiner persönlichen Spielepräferenz und hohen umgesetzten Geldsummen, erschließt sich die Verbindung zwischen einem erfolgreichen US-Rapper und einem Online-Survival-Shooter nicht. Doch durch diesen digitalen Bühnenauftritt bekräftigt sich der Feinsinn von Künstlern innerhalb eines Genres, das seit jeher Zustände in Frage stellt, neue Räume erschließt und den gesamten Kunstbetrieb jenseits der Gattungsgrenzen von Musik vorantreibt.

Hip-Hop als Zeremonie der Auflehnung

Bereits in ihren Anfängen entwickelt Hip-Hop-Kultur ein interdisziplinäres Fundament: Sprayer und Writer bedienen die visuelle Ebene, Breaker sprengen die Limits vorstellbarer Körperverrenkungen, DJs revolutionieren mit Loops und Samples Konventionen akustischer Wahrnehmung und MCs – Microphone Checker und Masters of Ceremony – haben kurz vor der Jahrtausendwende die bisher populärste Form lyrischer Veräußerung etabliert: den Rap.

Geboren aus der Tradition der Auflehnung gegen rassistische und repressive Zustände, sind Akteure der Hip-Hop-Kultur immer den Weg des Widerborstigen gegangen. Bis letztlich viele Pfade in die Pop- ebenso wie in die Hochkultur mündeten. Aus dem trüben Fahrwasser des Mainstreams ragen mehr und mehr Hip-Hop-Eisbergspitzen: Man denke dabei an das Tupac-Hologramm beim Coachella Festival 2012, Drakes Hommage an James Turrell im Musikvideo von "Hotline Bling", Kanye Wests allgemeine Affinität zu bildender Kunst oder das "APESHIT" Musikvideo von Jay-Z und Beyonce im Pariser Louvre.

"Vom Bordstein zur Skyline" und weit darüber hinaus reicht der Einfluss, den Hip-Hop durch die Appropriation post-industrieller Kulturtechniken ausweitet und verfestigt. In der Folge steigen Besucherzahlen des Louvre, Restitutionsdebatten werden ausgelöst oder meme- und trendbasierte Erscheinungen kanonisiert via Instagram, TikTok, Snapchat und anderen sozialen Medien.

Am Puls der Zeit

Keine Kunstströmung hat so schnell und effektiv Plattformen digitaler Kommunikation für sich eingesetzt wie Hip-Hop. Und eben da verwebt sich Travis Scotts astronomisches "Fortnite"-Event mit den Einflüssen vorausgehender Kulturpraktiken. Im Zuge der Hauruck-Digitalisierung des Alltags durch die Einflüsse der Corona-Pandemie ist für viele Konsumenten der ausbleibende Zugang zu Live-Musik ein schmerzhafter Verlust. Während mehr und mehr Zeit auf Netflix und YouTube verbracht wird, sind die Streamingzahlen von Spotify und anderen Musikdiensten in der Krisenzeit rückläufig.

Und wie man dem 21. Jahrhundert entsprechend auf sich verändernde gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Umstände reagieren kann, lässt sich am neuen Live -Rekord des "Fortnite"-Events beispielhaft nachzeichnen: Man nehme eine der größten Online-Spiel-Communities während einer globalen pandemiebedingten Ausgangsbeschränkung und kombiniere das mit einem orgasmischen Feuerwerk visueller Reize. Ein überdimensionaler Travis Scott gestikuliert in naturechter Manier vor einem pulsierenden, erdkugelähnlichen Kaugummi-Subwoover und glitched in der Landschaft einer polarlichterhellten 3D-Animation hin und her. Um die Szenerie versammelt führen Abermillionen individueller Avatare freischaltbare Dance-Moves aus und komplettieren ein surreales Sammelsurium der Repräsentation. Alles scheint unecht, alles ist wahr.


Zugegeben: Travis Scott ist nicht der erste Musiker, der im Zuge eines "Fortnite"-Events gefeatured wird. Im Jahr 2019 hat DJ Marshmello diese digitale Bühne ebenfalls vor einem Millionenpublikum eingeweiht. Doch im Gegensatz zu DJ Marshmello reiht sich Scott in eine Tradition der Grenzüberschreitungen ein und feiert dieses monumentale Event in Krisenzeiten abschließend mit der Weltpremiere eines neuen Songs. Verewigung findet dieser Auftritt nicht nur durch zahlreiche Online-Videos und Artikel, die die Show dokumentieren und kommentieren, sondern auch in Form eines sogenannten skins. Spielerinnen und Spieler hatten noch kurz vor dem Event, das vom 24. bis 26. April 2020 mehrfach wiederholt wurde, die Möglichkeit sich Outfits und andere freischaltbare In-Game-Inhalte anzueignen, um selbst als lebensnaher Travis-Scott-Avatar durch die farbenfrohe "Fortnite"-Welt zu flanieren.

So verkündete der Spielentwickler auf seiner Seite, dass der US-Rapper "die neueste Ergänzung der Ikonen-Reihe ist" und so in die Annalen des Videospiels eingeht. Erste Ikone der "Fortnite"-Reihe war übrigens der eingangs erwähnte Richard Tyler Blevins, der als YouTuber und professioneller Videospieler unter dem Pseudonym "Ninja" zu weltweiter Berühmtheit gelangte.

"Before it was DUMBO"

Durch Streaminganbieter wie Spotify und Co. haben sich Hörgewohnheiten verändert, Alben und analoge Datenträger sind verschwindende Medien im Musikgeschäft. Gezwungenermaßen stellt sich nun auch die Frage nach Alternativen der Live-Musik-Erfahrung. Aktuell sind Kellerkonzerte mit 200 Tanzwütigen genauso undenkbar wie Stadionauftritte vor 100.000 Menschen. Absehbar sind auch langfristige Folgen, die die Corona-Episode auf das kollektive Miteinander haben wird. So wie einst Sprayer durch die Straßen zogen und unter dem Motto "Reclaim the streets" ähnlich den Situationisten den urbanen Raum zurückeroberten, geschieht heute dasselbe im digitalen Raum, im Web-Space. Ein minimaler Bruchteil des Internets ist durch eine breite Öffentlichkeit ergründet, alles andere: rechtsfreier Raum.

Wer entsprechend schnell seine Claims abstecken kann, verschafft sich einen monumentalen Vorteil oder wie es in "The O.J. Story" von Jay-Z heißt: "I coulda bought a place in DUMBO before it was DUMBO | For like 2 million | That same building today is worth 25 million | Guess how I'm feelin'? Dumbo." Jay-Z bezieht sich in diesen Zeilen auf die Wertsteigerung von Immobilien aufgrund von Gentrifizierung in Brooklyns Nachbarschaft (DUMBO steht für "Down under the Manhattan Bridge Overpass"), mit der ihm ein lukratives Geschäftsmodell entgangen ist. 

Doch der Verlust dürfte für Jay-Z nicht von langer Dauer gewesen sein: Mit zwölf Grammys, umfassender Kunstsammlung und zig anderen Geschäftsmodellen zählt Jay-Z zu den wohlhabendsten Musikern der Welt. Und wenn Künstler wie Travis Scott oder Kanye West ein ähnliches Gespür für Erfolg beweisen, ist Jay-Z zwar der erste, aber mit Sicherheit nicht der letzte Hip-Hop-Milliardär.