Typologie der Alltagsdinge

"Gestaltung geschieht in vielen kleinen Schritten"

Weinflasche, Gemüsekiste, Pétanque-Kugel: Das Vitra Design Museum in Weil am Rhein widmet sich autorenlosen Dingen. Im Interview erklärt Kuratorin Viviane Stappmanns den Reiz des Alltäglichen und die Gestaltung ohne Gestalter 

Schon Darwins Evolutionstheorie beschreibt die Entstehung der Arten als Design ohne Designer. Was ein solcher autorenloser Prozess für die Produktgestaltung bedeuten könnte, erforscht das französische Designerkollektiv Collections Typologie. Ein Teil ihrer Forschungsergebnisse wird jetzt in der Vitra Design Museum Gallery präsentiert. Kuratorin Viviane Stappmanns erklärt, wie die Obst- und Gemüsekiste ins Museum kam und welche Rolle die Kunst dabei spielt

Frau Stappmanns, in der von Ihnen kuratierten Ausstellung "Typologie. Eine Studie zu Alltagsdingen" werden jeweils zahlreiche Versionen von nur wenigen Grundobjekten zu sehen sein. Worum geht es?

Die vier Designer, mit denen wir diese Ausstellung machen, beschäftigen sich seit einigen Jahren mit Fragen des autorenlosen Designs. Immer intensiv mit einem einzelnen Objekt – Dinge, die sich über einen langen Zeitraum entwickelt haben und auch lokal immer wieder verändert wurden, aber in ihrer Grundform meist erstaunlich konsistent sind. Man könnte vielleicht heute von einer Art Open-Source-Gestaltung sprechen. 2016 begann Collections Typologie, sich mit mit Boules- und Pétanque-Kugel auseinanderzusetzen, dann folgten Weinkorken und Weinflaschen. Bei uns wird nun ihr Forschungsprojekt zur Obst- und Gemüsekiste lanciert.

Die waren über lange Zeit relativ unpraktisch in Korbmanier gefertigt, erfuhren dann aber eine plötzliche Veränderung…

Die Gestaltungsgeschichte der Obst- und Gemüsekiste ist nur sehr schwer direkt zu erforschen. Genau datierte Objekte gibt es höchst selten. Selbst in anderen Museen wurden wir kaum fündig: Wenn man hier mal auf eine historische Kiste stößt, dann oft nicht als inventarisiertes Objekt – sondern als Gefäß, in dem andere Dinge aufbewahrt werden. Die Geschichte lässt sich also schwer rekonstruieren. Aber auf Gemälden aus dem Mittelalter fanden wir zahlreiche Gefäße in ganz unterschiedlichen Größen – das hat uns interessiert, also haben wir uns die etwas genauer angeschaut.

Wo die historischen Anschauungsobjekte fehlen, hilft Ihnen die Kunst weiter?

Ja, tatsächlich, dort haben wir spannende Beispiele gefunden. Die Kiste an sich ist ja allgegenwärtig, immer wieder wird sie gezeigt – gerade in den Marktszenen der niederländischen und italienischen Maler, oder auf Holzschnitten aus dem späten Mittelalter. Es herrschte häufig Subsistenzwirtschaft, der Überschuss, den man nicht brauchte, konnte auf dem Markt verkauft werden – präsentiert und transportiert in selbst gefertigten Gefäßen aus Naturmaterialien, die jeweils in der Nähe gewachsen sind. Lokal sehr unterschiedlich. Und dann, etwa zum Zeitpunkt der Industrialisierung, als auch die Landwirtschaft in viel größerem Maßstab möglich wurde und die Transportwege sich verlängerten, gab es diese Veränderung hin zu rechteckigen, standardisierten Gefäßen. Die tauchen dann bald auch in der Kunst auf.

Umgekehrt schreiben Sie, dass sich zum Beispiel Weinflasche und Korken über Jahrhunderte kaum verändert haben. Letzterer ist heute streng genommen sogar längst obsolet geworden…

Ganz genau: Bei der Gemüsekiste gibt es eigentlich den größten Bruch in dieser Produktgestaltung –während es bei der Weinflasche eigentlich fast verwunderlich ist, wie wenig sich diese verändert hat. Da muss man sich fragen: War die von Anfang an perfekt? Oder sind wir so traditionsbewusst, dass wir die Weinflasche eigentlich heute noch gern genauso hätten wir vor 100, 200 Jahren? Viele Fragen bleiben in der Ausstellung auch offen, aber es ist sehr spannend, sich damit zu beschäftigen. Der Korken beispielsweise hat einst die Demokratisierung des Weins vorangetrieben, weil er die Flaschen transportabel machte. Eine simple Erfindung, eigentlich besteht er ja nur aus einem Stück Rinde.

Eine absichtslose Gestaltung ist im Grunde so alt wie die Menschheit, auch die Darwin‘sche Evolutionstheorie ließe sich als "Design ohne Designer"bezeichnet. Lassen sich die hier nachvollzogenen Prozesse des unabsichtlichen Designs denn überhaupt absichtlich herbeiführen und für den Designprozess nutzbar machen?

Es ist natürlich die Frage, ob "unabsichtlich" hier überhaupt zutreffend ist – die Gestaltung geschieht ja schon absichtlich, aber eben in vielen, kleinen Schritten. Und natürlich lässt sich das Resultat nur rückblickend betrachten, aber in diesem Rückblick steckt auch in großes Wissen. Für das Designerkollektiv ist diese Arbeit wiederum wichtig, um zu besseren Gestaltern zu werden – sich anzuschauen, wie Dinge verfeinert werden können, dass sie nicht nur aus einer einzelnen Feder stammen müssen. Das ist ja heute etwas, das wieder in den Fokus rückt: Kollektive Prozesse, Kollaborationen, sich Zeit nehmen. Viele haben begriffen, dass ein Entwurf vielleicht nicht von Anfang an perfekt sein muss, sondern dass es viele Versionen geben kann. Auch diese Frage beschäftigt Designer: Muss ich immer wieder etwas völlig Neues schaffen, oder kann ich auf Bestehendes zurückgreifen? Man kann Dinge ja auch so gestalten, dass bestimmte Fragen offen bleiben.

Ein Design, das von vorneherein als work in progress begriffen wird?

Genau, eines, das noch Möglichkeiten für potentielle Veränderungen und Anpassungen lässt.

Eine solche Vorstellung von Gestaltung hat natürlich ihre Konsequenzen, sei es die Arbeit in Kollektiven, oder auch – wie in der Tech-Branche beliebt – vom "Data-Driven-Design", bei dem Algorithmen wichtiger werden als der gestalterische Scharfsinn des Einzelnen. Nicht allen Designern gefällt die Idee des autorenlosen Designs…

Natürlich verstehe ich die Sorge und die Kritik an der Idee vom autorenlosen Design. Zugleich denke ich nicht, dass Designer überflüssig werden. Ganz im Gegenteil. Als denkende Kraft im Gestaltungsprozess ist der Designer ja nicht ausgeschaltet, sondern umso notwendiger. Sich vielleicht weniger als Formgeber zu verstehen, sondern als einer, der in diesen Prozess eingreifen kann – da ist kreatives und vorausschauendes Denken ja gefragt, ganz besonders in Zeiten, in der Umweltfragen im Vordergrund stehen. Denn wie wir alle wissen können Produkte, die nicht hinterfragt werden, auch sehr unerwünschte Ergebnisse hervorbringen. Es geht um Entscheidungen, die verantwortungsvoll gefällt werden müssen. Designer, die recherchieren und sich auseinandersetzen, sind gefragter denn je. Es geht nicht nur um die Form, die letztlich dabei herauskommt.