Uferhallen-Manifest

"Es geht nicht nur um die Berliner Kulturszene, es geht viel weiter"

Uferhallen im Berliner Stadtteil Wedding
Foto: © Hansjörg Schneider

Uferhallen im Berliner Stadtteil Wedding

Die Uferhallen in Berlin-Wedding gehören zu den vielen bedrohten Kulturstandorten der Stadt. Deshalb gibt es nun eine Ausstellung als Manifest. Ein Gespräch mit den künstlerischen Leiterinnen Isabelle Meiffert und Sarah Theilacker


Isabelle Meiffert und Sarah Theilacker, das Uferhallen Manifest ist nicht nur eine kuratierte Ausstellung in Berlin, sondern befasst sich mit der räumlichen Bedrängnis, mit der die hiesige Kunstszene unter Druck gesetzt wird. Warum sind dieses Projekt und das dahinterstehende Bündnis derzeit so wichtig?

Isabelle Meiffert: Die Uferhallen sind ein bedrohter Kulturstandort, und das schon seit Längerem. Das Gelände, ehemals von den Berliner Verkehrsbetrieben als Straßenbahndepot und Bus-Reparationsstelle genutzt, wurde vom Senat verkauft und gelangte über verschiedene Umwege in die Hände von einem Firmenkonstrukt rund um Oliver Samwer. Investoren, die einfach spekulieren und Gewinn machen wollen mit dem Boden. Die interessiert nicht so sehr, was da auf dem Gelände eigentlich los ist. Deren Interessen sind losgelöst von der eigentlichen Nutzung vor Ort. Vor zwei Jahren habe ich einen Anruf bekommen von einer dort ansässigen Künstlerin, die heute im Verein  Uferhallen e.V. aktiv ist. Die Künstler*innen, die auf dem Gelände tätig sind, haben jahrelang selbst organisierte Ausstellungen auf dem Gelände gezeigt und ein Mal jährlich ihre Ateliers geöffnet. Antje Blumenstein, die besagte Künstlerin, fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, mit ihnen gemeinsam eine thematische, ortsbezogene Ausstellung zu kuratieren, um die Problematik auf ein anderes, professionelles Niveau zu heben und so mehr Öffentlichkeit zu generieren.

Und Sie hatten offenbar Lust.

IM: Ja, das Ganze hieß dann "Eigenbedarf" und fand vor etwa einem Jahr statt. Es handelte sich um eine Ausstellung mit 65 Künstler*innen, die meisten vom Gelände, und es ging zunächst darum, die Diversität künstlerischer Positionen dort zu zeigen. Der zweite Fokus war auf die Situation bezogen. Das brachte entsprechend viel Öffentlichkeit, was in diesem Fall besonders wichtig ist.

Und wie steht es derzeit um die Verhandlungen?

IM: Mittlerweile sind die Verhandlungen zwischen den Künstler*innen, den Investoren und der Stadt auf dem Stand, dass in einem städtebaulichen Vertrag eine Sondernutzung "Kultur" festgeschrieben werden könnte – und das für 30 Jahre. Das könnte man nun konkret für dieses Gebiet festhalten. Da sind eben nicht nur Ateliers, sondern auch Produktionsstätten wie "SculptureBerlin" und die Ausstellungsräume inbegriffen. Diese Vereinbarung ist auch das aktuelle Ziel. Damit ist es aber nicht getan.

Deshalb nun das Uferhallen-Manifest?

IM: Ganz genau. Die Künstler*innen haben mich gefragt, ob ich ein zweites Mal eine Ausstellung mit ihnen gemeinsam organisieren würde. Zunächst habe ich mich dagegen gesträubt, weil ich nicht "Eigenbedarf Part Two" anmelden wollte. Dann ist uns jedoch aufgefallen, dass die Uferhallen ja nur ein Beispiel von vielen sind. Das spüren wir alle. Dabei geht es nicht nur um die Berliner Kunstszene, sondern es geht viel weiter.

Berliner Künstler*innen können sich teilweise keine Atelier- oder Studioräume in Berlin leisten und mieten sich deshalb Räume in Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg an. Dadurch entsteht ein Domino-Effekt und die dort notwendigen Räume werden von Hauptstädtern, am besten auch noch "Wessis", besetzt, sodass die hiesige Kunst-Szene verdrängt und gegeneinander ausgespielt wird.

IM: Es verschwinden Freiräume in dieser Stadt, und das ist auch ein Phänomen, das in einem globalen Kontext betrachtet werden muss. Deshalb haben wir uns entschieden, ein Manifest aufzusetzen und grundsätzlich auf diesen Verlust der Freiräume zu beziehen. Es handelt von Visionen und alternativen Konzepten, die man dem gegenüberstellen kann. Was sind eigentlich die Gründe für diesen Verlust? Speziell für Berlin ist das Thema ein Dauerbrenner, aber wir sind der Meinung, dass man nicht nachlassen darf. Mein persönliches Horrorszenario sieht so aus, dass wir in 30 Jahren immer noch hier stehen, das Gelände immer noch in privater Hand ist und die Künstler*innen wieder bedroht sind. Deshalb sind wir der Meinung, dass es dafür andere Tools braucht, auch von politischer Seite.

Diese Forderungen sind aber nicht unbedingt bahnbrechend und neu…

IM: Keineswegs! Natürlich gibt es Ideen und Visionen, die sind teilweise schon ganz alt. Einige davon wurden von den Künstler*innen hervorgekramt, und wir haben uns in dem Zuge mit dem Anspruch von Manifesten zu diesen Themen auseinandergesetzt.

Sarah Theilacker: Und das ist eben das Interessante – das ist nicht neu, das ist uralt. Unsere Recherchen haben uns von einem Beispiel zum nächsten geführt: Da ist das "Haben und Brauchen"-Manifest aus Berlin von 2012. Da werden diese Bedürfnisse nach Kunsträumen bereits formuliert. Es gibt aus Hamburg einen offenen Brief, als damals ein Atelierhaus bedroht war. Da haben die Involvierten '91 schon genau die Ansprüche erhoben, die wir heute auch alle wiederfinden. Diese ganzen Manifeste und Forderungen nach selbstbestimmten Räumen, nach freien Denkräumen, nach Begegnungsräumen finden alle nur keinen Eingang in die Realität. 

Offener Brief von 1991 des Hamburger Vereins "Ateliers für die Kunst e.V."
Foto: © Ateliers für die Kunst e.V.

Offener Brief von 1991 des Hamburger Vereins "Ateliers für die Kunst e.V."


Also ist die Ausstellung auch eine Art fortgeführte Trotzreaktion?

ST: Ebendas! Trotz allem Vorausgegangenen sind die Uferhallen als wahrscheinlich 50. Kulturort in Berlin wieder bedroht. Und man steht da und denkt: Das kann doch nicht wahr sein! Und die Konsequenz daraus darf auf keinen Fall Resignation sein. Wir mussten daher mit künstlerischen Mitteln vor Ort opponieren und das Thema einfach wieder aufmachen, weil es auch konkret für die Uferhallen relevant ist und bleibt. Und der Witz ist ja, wie bereits angesprochen, diese Bedrohung der Uferhallen – das ist ja nur der Anfang. Auch im Wedding. Man muss es nur weiterdenken. Es sind immer erst diese Räume, die bedroht werden und als nächstes folgen die Wohnräume, die zur Spekulationsbasis werden. Der Prozess ist bekannt.

IM: Mittlerweile hat die Politik ja auch begriffen, dass da einiges schiefgelaufen ist, als beispielsweise so wahnsinnig viele Immobilien Anfang der 2000er in Berlin verkauft wurden.

Wenn Menschen zu der Ausstellung kommen und anderen, ebenso gerechtfertigten Bedarf anmelden, beispielsweise darauf aufmerksam machen, dass zunächst mal Wohnraum fehlt für die Bevölkerung: Was würden Sie ihnen antworten?

ST: Das gegeneinander auszuspielen, ist sinnlos. Darum geht es überhaupt nicht. Die Ausstellung kann jetzt auch nicht die eine Antwort finden. Es ist auch gar nicht die Aufgabe einer Ausstellung, eine singuläre Lösung zu präsentieren. Die Ausstellung hat zum Ziel, Denkanstöße zu geben und den Raum für Diskussion zu öffnen. Und danach ist es eine politische und gesellschaftliche Debatte, die wir miteinander führen müssen. Ob wir das weiterhin verfolgen wollen. Dass wir alle bedroht sind, hat ja einfach damit zu tun, dass wir dem Kapitalismus folgen. Es geht immer nur um Verwertung, und zwar monetäre Verwertung.

Aber so bleibt es doch auf die Kulturblase bezogen?

ST: Ganz klares "Nein". Die Ausstellung soll eben genau da hinführen, dass man nochmals die eigene Position dazu hinterfragt. Es betrifft uns halt alle. Wir sind alle komplett durchdrungen von diesem Maximierungsdenken, nicht nur in Bezug auf Kapital. Und wenn wir daran etwas ändern wollen, dann können wir das nur gemeinschaftlich.

IM: Es geht uns nicht nur um Kulturräume und deren Verwertbarkeit. Im Vordergrund steht, dass es auch um andere Räume geht, abstrakte wie konkrete. Beispielsweise geht es in einer Arbeit von Angelika Levi um die Proteste und Widerstände von "Kotti & Co". Eine zentrale Arbeit der Ausstellung, neben der es auch andere gibt, die sich…

ST: …mit anderen Dimensionen der Raumfrage beschäftigen.

IM: Genau. Es war uns ein enormes Anliegen, das Thema größer zu denken und es auf ein anderes Level zu heben. Es als Manifest zu denken, bedeutet auch, dass wir uns aus der Kunst und Kultur herausbewegen, weil das ohnehin nur ein Aspekt ist.

ST: Wir gehen ja sogar noch einen Schritt weiter. Es geht bis hin zur Frage: Was ist Natur und was ist kultivierter Raum? Oder was ist eigentlich Raum, den wir für Fahrzeuge zur Verfügung stellen? Oder für Tiere? Oder wo könnten wir noch weiteren Raum finden? Also es geht sehr weit weg von dem Ausgangspunkt des letzten Jahres, als man gemeinsam vor Ort "Eigenbedarf" angemeldet hat. Man kann es gar nicht oft genug sagen: Es betrifft jeden von uns. Man kann sich dem nicht entziehen.

IM: Vor diesem Hintergrund war uns wichtig, dass dieses Manifest absolut pluralistisch und vielfältig ist. Wir nehmen unterschiedliche Perspektiven ein: von unterschiedlichen, gesellschaftlichen Gruppen aus unterschiedlichen Zeiten. Was können wir heute lernen von Henry George, dem ersten Bodenreformer aus den USA, der diese Ideen bereits vor 100 Jahren formuliert hat? Im Rahmen der Ausstellung blicken wir in unterschiedliche Länder, befragen Kulturen und marginalisierte Gruppen. Immer mit dem Anspruch: Ganzheitlich, aber eben pluralistisch.

Es wurde nun mehrfach angesprochen. Sie haben sich entschieden für die Überschrift als Manifest. Warum ausgerechnet diese, oftmals als Polemik verschriene Form?

ST: Na genau deshalb, würde ich sagen. (Lacht.) Ein Manifest ist catchy per se, und es handelt sich hier um eine Positionierung. Deshalb erschien es uns einfach passend, wenn wir das Thema zum einen wieder auf- und zum anderen größer machen wollen. Wir haben jetzt keine Position in dem Manifest, die für die komplette Privatisierung von Räumen ist oder für komplette monetäre Verwertung. Also wir haben auch schlichtweg keine Positionen gefunden, die die neoliberale Logik propagieren.

IM: Es ist ein Statement. In Richtung der Politik, in Richtung der Gesellschaft. Weil wir etwas bewirken wollen damit. Wir haben lange darüber diskutiert. Den ersten Konzeptentwurf, der noch sehr roh war, habe ich mit zwei Künstlern vom Gelände geschrieben, mit Hansjörg Schneider und Peter Klare. Dabei haben wir uns gefragt: Was folgt auf den "Eigenbedarf"? Schon "Eigenbedarf" war ein Statement und hat sehr viel Aufmerksamkeit bekommen. Und wenn wir das jetzt auf eine andere Ebene heben wollen, die über die Uferhallen hinausgeht und andere Akteur*innen einschließt, sich mit ihnen solidarisiert – was kann das sein? Daher musste es ein Manifest sein. Es erschien uns logisch.

Die letzte große Manifest-Welle war vor etwa 100 Jahren zum Aufbruch der Avantgarden: Futuristen, Situationisten, Dada und allen voran das kommunistische Manifest. Derzeit feiern Manifeste scheinbar ihre Renaissance. Sehen Sie da eine Parallele? Ergo: Wiederholt sich die Geschichte?

ST: Gute Frage. Also ich könnte nicht sagen, dass ich eine Parallele sehe. Erst kam zwar das kommunistische Manifest und dann folgten die künstlerischen Manifeste, aber wir eignen uns den Begriff jetzt an und machen damit  etwas ganz Anderes. Und ich habe nicht das Gefühl, dass sich Geschichte wiederholt, allein wegen der beschleunigten Umstände. Oder woran würden Sie das festmachen?

Auch im philosophisch-politischen Sinne gibt es eine Aktualisierung: Das "Terrestrische Manifest" von Bruno Latour, das 2018 erschienen ist. Seit 1996 findet ein Kunstfestival statt, das sich selbst "Manifesta" nennt. Jonathan Meese oder Kay Voges erheben den Manifest-Anspruch auch in der darstellenden Kunst und im Zuge von Corona hat die Organisation "perUnaltracittà" die Stadt Florenz mit Manifesten tapeziert.

IM: Vielleicht liegt das auch daran, dass sich die Gesellschaft insgesamt wieder mehr politisiert. Oder wie wäre Ihre These dazu?

Oder wird Politik ästhetisiert?

ST: Das auf jeden Fall! Dennoch würde ich nicht sagen, dass sich Geschichte wiederholt. Ich würde unterschreiben, dass sich in der Raumfrage die Vorgänge wiederholen. Das ist ein ewiger Kreislauf seit wir diesem System gläubig sind, in dem wir leben. Und da gab's natürlich immer Gegenbewegungen, die wird es auch immer geben. Das finde ich auch richtig, das ist für mich aber noch keine Geschichts-Wiederholung. Dafür ist mir das Potential für Gegenwind nicht stark genug. Da würde ich eine andere Form der Dominanz erwarten, wenn wir jetzt wirklich Geschichte wiederholen könnten. Wir werden nicht so schnell in den Bereich kommen, wo wir über öffentlichen Raum reden und dabei von Privatisierung wegkommen. Wir sind im Moment an einem derart festgefahrenen Punkt, dass wir höchstens Impulse setzen können. Und die machen wir möglichst öffentlich und laut.

IM: Das ist eine interessante Fragestellung. Die Manifeste der 1920er-Jahre thematisieren die Bereiche zwar, aber da geht es nicht primär um Raum. Es ist nachvollziehbar, dass die Form des Manifests so etwas wie ein Revival erlebt, aber es sind teilweise andere Thematiken. Und vor allem andere, viel stärker verhärtete Umstände. Die von uns aufgegriffenen Forderungen haben wir wiederum in anderen Manifesten sehr stark repräsentiert gefunden, die dann später kamen oder teilweise schon vorher gestellt wurden.

Künstler*innenkolonien entstanden schon in der Vergangenheit. Ob in Murnau, Ahrenshoop oder Willingshausen. Auch haben sich quasi-aktivistisch motivierte Künstler*innen Raum erschlossen oder (zurück-)erobert, wie in der Spinnerei in Leipzig. In welcher Rolle sehen Sie sich als Kuratorinnen, einer Position, die vor vergleichbar wenigen Jahren in das Bewusstsein des Kunst-Kosmos gerückt ist?

IM: Die Rolle von freien Kurator*innen gibt es aber auch nicht erst seit ein paar Jahren. Das gibt es mindestens seit Harald Szeeman. Ein bisschen zeitversetzt hat es sich in den USA ähnlich entwickelt. Ich würde die Arbeit, die wir machen, als dialogisch und prozesshaft beschreiben. Als eine künstlerisch-kuratorische Allianz. Natürlich stellen wir die künstlerischen Positionen zusammen, aber es sind sehr vertraute Dialoge, die wir führen. Das ist kein Top-Down-Prinzip. Ich finde das immer befremdlich, wenn eine Kuratoren-Position so gedacht wird. Die Werkideen kommen von den Künstler*innen und es ging hauptsächlich darum, ortsbezogene, thematische Arbeiten zu realisieren und vorher gemeinsam zu entwickeln. Selbstverständlich gibt es Arbeiten, die schon im Vorhinein existierten und von denen wir fanden, dass sie wunderbar in die Ausstellung passten. Diese Werke sind aber deutlich in der Unterzahl – die meisten Arbeiten entstehen gerade in dem Moment, in dem wir dieses Interview führen.

ST: Zudem nehme ich das so wahr, dass gerade in einer freien Struktur die kuratorische Position die Fäden zusammenhält. Das beinhaltet sehr viel Organisation, Kommunikation, bis hin zu dem Aufwand, den Verein nochmals zu motivieren, eine erneute Informationsveranstaltung anzubinden. Die Akteur*innen verfolgen den Prozess seit Jahren und verlieren gelegentlich die Distanz, die die Öffentlich teilweise noch dazu hat. In so einem Kontext ist es auch gar nicht möglich, so etwas Top-Down zu organisieren. Wir sind alle auf Zusammenarbeit angewiesen, in alle Richtungen. Und das gilt auch für die Ausstellung. Die ist nur möglich, weil die Künstler*innen vor Ort ihre (Wo-)Man-Power, Materialien und Werkzeuge zur Verfügung stellen. Nebst ihrer eigenen Kunst. Das würde gar nicht anders gehen. Trotz Lotto-Finanzierung wäre es schlichtweg nicht möglich, für jeden Schritt der Realisierung jemanden kommen zu lassen. Es geht nur zusammen. Es ist alles dialogorientiert.

Sie versammeln verschiedenste Medien und Kunstdisziplinen. Haben wir es also mit einem partizipativen Gesamtkunstwerk zu tun? Oder eher mit einem aktivistischen Gesamtkunstwerk?

ST: Ich würde mich intuitiv eher für das aktivistische Gesamtkunstwerk aussprechen.

IM: Partizipativ passt nicht so richtig. Es gibt zwar partizipative Arbeiten, aber als Überschrift wäre es zu vorsichtig. Wir wollen schon aktivieren! Sagen wir, es hat einen aktivistischen Anteil und es ist alles mit künstlerischen Mitteln umgesetzt.