"Unboxing" im Museum

Raus aus der Kiste

Im Clemens Sels Museum in Neuss schlummerten viele Werke von Künstlerinnen seit langem im Depot. Zwei junge Kuratorinnen bringen sie nun zurück in die Sichtbarkeit. Über ein "Unboxing"-Projekt der anderen Art

Ein besonderer "Frühjahrsputz" macht sich in zwei Akten seit April in der brutalistischen Architektur des Clemens Sels Museum in Neuss bemerkbar. Er wirbelt Staub im Depot auf und bringt ans Licht, was unter Umständen noch nie gezeigt wurde: Werke von Künstlerinnen, die teilweise seit ihrem Ankauf im Depot schlummerten. 

Im Rahmen des Kuratorinnen-Stipendiums NRW+ haben Lara Bader und Marlene Kurz in einer ersten Phase Arbeiten von 55 der insgesamt 130 Künstlerinnen aus dem Bestand des Hauses in dem groß angelegten Ausstellungsprojektes "The Unboxing Experience" der Öffentlichkeit präsentiert. In Transportkisten verstaut, wurden einige Werke während der Eröffnung ausgepackt. "Unboxing" wird hier Institutionskritik, ein Beitrag zur Debatte um Sichtbarkeit und den "Gender-Show-Gap". Und ein Überraschungsei für das Publikum. 

Die Magie des Auspackens feiert auf Instagram schon seit geraumer Zeit erstaunliche Erfolge. In den sogenannten "Unboxing Videos" inszenieren Influencerinnen und Influencer genüsslich den Vorgang, ein Produkt aus seiner Schachtel zu schälen. PR-Maßnahmen und kindliche Freude prallen aufeinander und vereinen sich zu einem hervorragenden Marketing-Tool. 

Über 100 Künstlerinnen in der Sammlung

Nun haben sich zwei Nachwuchs-Kuratorinnen diesen Vorgang zu eigen gemacht und damit ein kritisch-humorvolles Konzept entwickelt. Lara Bader und Marlene Kurz wurden vom Clemens Sels Museum Neuss eingeladen, sich mit den Frauen in oder hinter der Sammlung auseinanderzusetzen. Beides bietet sich für ein Museum an, bei dem die Verantwortung seit seiner Gründung durch die Stifterin Pauline Sels vorwiegend in den Händen von Direktorinnen lag - und das über 100 Künstlerinnen in seiner Sammlung aufweisen kann.

Fluch und Segen zugleich war für die Kuratorinnen jedoch die Tatsache, dass diese weiblichen Positionen nur rund zwei Prozent der Sammlung ausmachen. Die Recherchelage zu vielen der Werke war rudimentär, der Zustand der Arbeiten Abbild davon, welche Kunst als interessant erachtet und gepflegt wurde, und welche nicht. 

Dennoch, und gerade deshalb, sollte es eine authentische Bestandsaufnahme als work in progress geben. Konsequent nach dem Jahr des Erwerbs geordnet wurden Gattungen, Hierarchien, Vorurteile über Bord geworfen. Naive Malerei fand sich neben Werken von Katharina Grosse wieder, Bilder in schlechterem Zustand hingen oder standen Seite an Seite mit Hochglanz-Oberflächen.

Aus dem Sehen wird ein Räsonieren

Gerade diese Mischung, eingebettet in eine prozesshafte Inszenierung, führte zu einer speziellen Ästhetik. In Kombination mit der Beton-Architektur und dem eigenwilligen Teppichboden schuf sie ein Erlebnis, das in jeglicher Hinsicht anders war. Fernab vom üblichen white cube gelang den Kuratorinnen das Kunststück, einen herausfordernden, weil kaum aufgearbeiteten Sammlungsteil mit noch schwierigeren Räumen zu einem gelungenen Ergebnis zu führen. Eines, das für viele Häuser zukunftsweisend sein sollte. 

Die Grundidee dazu gab das Haus selbst vor. In Kooperation mit dem Stipendienprogramm NRW+  stellte das Museum die Frauen in oder hinter seiner Sammlung zur Disposition. Die Kuratorinnen wurden von der Jury des Stipendiums ausgesucht, als Duo zusammengebracht und dem Museum zugesprochen – eine Vorgehensweise, die durchaus Potenzial hat, nicht zielführend zu sein. 

Seit April in Münster ansässig, entwickelten Lara Bader und Marlene Kurz jedoch in kürzester Zeit ein Konzept für das Sels Museum. Dieses sieht eine Phase zwei im gleichen Haus vor, der Überraschungsei-Moment mündet ab dem 27. Juni unter dem Titel "Resonating Voices" in einen Resonanzraum. Aus dem Sehen wird ein Räsonieren.

Interessante Gespräche mit der Sammlung

Sechs internationale zeitgenössische Künstlerinnen wurden eingeladen, sich mit neun Positionen aus der Sammlung auseinanderzusetzen. Thematisch ausgerichtet ist sie auf Fragen des Raums. Metaphorisch schwingen diese in der Sichtbarkeitsdebatte mit, formal geht es um sensible Farbräume im Kontrast zur brutal-monochromen Beton-Architektur des Hauses. 

Carolin Israel, geboren 1990, zeigt eine farbige Wandarbeit, die sich mit Störungseffekten auseinandersetzt und den Dialog mit kleinformatigen Werken von Katharina Grosse aus der Sammlung eingeht. Auch Anna Bochkova, Sara De Brito Faustino, Camille Dumond, Shannon Sinclair und Alicja Wysocka bauen interessante Bezüge zu den Werken des Museums auf, initiieren ein lebendiges Gespräch.

Das Entpacken, Entdecken, Erfahren kommt mit dieser Ausstellung (vorerst) an sein Ende – zumindest für die Kuratorinnen. Wie das Museum mit seinen Beständen in Zukunft verfahren wird, bleibt offen. Das Stipendium ist bislang nicht auf nachhaltige Zusammenarbeit angelegt. 

"Care-Arbeit" für Künstlerinnen-Werke

"Wir haben", so Lara Bader, "einen ersten Aufschlag gemacht, der im besten Fall das Bewusstsein schärft". Und Marlene Kurz ergänzt: "Wir haben eine Grundlage geschaffen für einen Prozess, der eigentlich mehrere Jahre braucht". Erste positive Anzeichen gibt es. Manche der von Künstlerinnen geschaffenen Werke aus dem Depot wurden in der Zwischenzeit restauriert und erstrahlen in Phase zwei in neuem Glanz. Diese "Care-Arbeit" gegenüber der Kunst verbuchen beide Kuratorinnen als Erfolg. 

Eine dritte Phase wird es wohl leider nicht geben. Das große Finale findet für Lara Bader und Marlene Kurz im Neuen Aachener Kunstverein (NAK) statt. Dort werden sie die Abschlussausstellung von vier, ebenfalls von NRW+ geförderten Künstlerinnen kuratieren.