Virtuelle Erlebnisse

Und der Rave geht online weiter

Im Zuge der Corona-Krise erleben von Avataren bevölkerte virtuelle Räume eine Renaissance – und ermöglichen die Rückkehr zu einer Form des Internets, die lange verloren schien

Als ich zum ersten und einzigen Mal "Second Life" betrat, war ich zu spät dran. Während der Blütezeit des Weltsimulationsspiels war ich zu jung und zu wenig internetaffin gewesen, und so irrte ich viele Jahre später als mehrere Meter große Elfe mit schillernd grüner Haut und schwarzen Flügeln durch verlassene Stripclubs, leere Galerien und kalifornische Geisterstädte aus der Zeit des Wilden Westens. Das 2003 veröffentlichte Onlineprogramm stammt aus einer Zeit, in der das Internet noch wirkte wie ein endloser Raum, der eine je nach Betrachtungsweise verheißungsvolle oder gefährliche Flucht vor der materiellen Realität ermöglichte. Heute wissen wir, dass die Sache um einiges komplexer ist. Das Internet fordert unsere Klarnamen, steckt in unseren auf Zurufe reagierenden Lichtschaltern und sitzt uns im Nacken, wenn wir den nächsten Urlaubs-Schnappschuss planen. Es ist längst keine parallele Realität mehr, sondern als Augmented Reality Teil unserer permanent virtuell erweiterten Lebenswelt.

Vielleicht rührt meine Begeisterung für "Second Life" also auch von einer Sehnsucht nach einer Zeit, in der virtuelle Räume noch wortwörtlicher zu verstehen waren und die Freiheit verhießen, jemand vollkommen anderes zu sein. Ich schaute mit Begeisterung Cao Feis Videoarbeiten, in denen ihr "Second Life"-Charakter China Tracy romantische Date-Gespräche im Schein des kitschübersättigten Sonnenuntergangs erlebt und bewunderte ihre von 2008 bis 2011 bestehende RMB City, einer inselgewordenen Persiflage chinesischer Kultur und Architektur, die von der Künstlerin regelmäßig mit kulturellen Veranstaltungen bespielt wurde. Auf Cao Feis überdrehtem Eiland konnte man ganz unabhängig davon, wo in der materiellen Welt man sich gerade befand, ein von Marx, Mao, Lao Tze und einem Lehmann Brothers-CEO betriebenes Fußmassagestudio besuchen. Derartige Aktionen waren ebenso gleichberechtigt frei zugänglich wie Eva und Franco Mattes "Second Life"-Reenactments berühmter Performances wie Vito Acconcis “Seedbed” und Marina Abramovics und Ulays “Imponderabilia”.

Als mich inmitten des Corona-Lockdowns die Einladung zu einem Cyber-Rave erreicht, fühlt es sich so an, als würde die Uhr noch einmal zurückgestellt. Das Künstlerkollektiv Neurodungeon lädt zu einer von echten DJs bespielten Party in der Online- und Smartphone-App Club Cooee. Was folgt, fühlt sich an wie der normalste Abend seit langem. Mit großer Sorgfalt suche ich ein Outfit aus Beinwärmern, Steampunk-Brille und Goth-Armstulpen für meinen Avatar aus. Beim Skype-Gespräch mit Freunden aus Düsseldorf und London vergesse ich die Zeit, bis mich eine Nachricht einer Berliner Freundin erreicht, mit der ich im Dungeon verabredet war: “man kommt nicht mehr rein, die Party ist voll!” Was der Begrenzung der einzelnen Chatrooms auf maximal 70 Personen geschuldet ist, fühlt sich an wie der realitätsgetreueste Aspekt der gesamten Erfahrung. Klar ist Türpolitik entnervend, aber der Schwellenmoment, den sie erzeugt, ist einer der vielen Faktoren, der die Konstruktion von Clubs als alternative Räume ermöglicht. 


Meiner IRL-Erfahrung gemäß entschließe ich mich, die Hauptandrangszeit auszusitzen. Ich schaue im Instagram-Videochat eines Freunds aus Frankfurt vorbei und starte anschließend einen neuen Versuch. Immer wieder drücke ich in der Hoffnung, genau den Moment zu erwischen, in dem jemand die Party verlässt, auf den “Join Room”-Button. Als ich es endlich klappt, bin ich mittendrin in der kompletten Reizüberflutung. Die frei in der Luft schwebende Burgruine ist überfüllt mit bunt gekleideten Ravern, Feen, Punks und Dämonen; Regenbogen und pinke Transformer-Figuren säumen die Tanzfläche.

Während ich versuche, meinen Avatar zum tanzen zu bringen, erreicht mich der Anruf eines Freundes, der es ebenfalls reingeschafft hat, nun jedoch im Computer-Kerker auf der Rückseite des Schlosses festsitzt und nicht so recht weiß, wie er sich zurück zur Party navigieren soll. Als wir uns endlich gefunden haben, verfallen wir beide in den vorinstallierten Standard-Shuffle, den die meisten der hier auf engstem Raum versammelten Besucher tanzen. Das Gefühl, von so vielen Körpern umgeben zu sein, ist wunderbar berauschend.

Baudrillard auf Zoom

Am folgenden Tag telefoniere ich mit Samantha Bohatsch, die an einer performativen Lesung im Online-Metaverse IMVU arbeitet. Eigentlich wollte die Künstlerin ihren für die Kunsthalle Baden-Baden entstandenen Text über eine romantisch verdampfte Sauna-Begegnung in einer Live-Performance zeigen, nun lässt sie ihn von ihrem Avatar am Pool ihrer virtuellen modernistischen Luxusvilla verlesen. Wir reden über die Online-Party Club Quarantäne, bei der namenhafte DJs wie Helena Hauff auflegen und über die Plattform Plug.dj, auf der Booking-Agentur Illegal Tapes  regelmäßig Soundcloud-Raves veranstaltet. Und wir sprechen darüber, wie sich unser Umgang mit dem Internet generell verändert hat. “Man ist auf einmal auf einer emotionalen Ebene intimer mit Leuten”, sagt sie, “digitale Kommunikation wird plötzlich gefühlvoll.” 

Sonntagabend, ich treffe mich mit meinem kürzlich ins Leben gerufenen Lesekreis auf Zoom. Wir sind quer verteilt zwischen Oldenburg und São Paulo, die Isolation in unseren jeweiligen häuslichen Kapseln nivelliert unsere räumliche Distanz. Dieser Tage Baudrillard zu lesen, fühlt sich befremdlich an. Es ist schwer, die moralbefreite Thesenverliebtheit zu ertragen, mit der er den Virus als ein Übel beschreibt, welches das weitaus größere Übel der grenzenlosen Virtualität und Zirkulation verhindert.

Außerdem, merke ich an, ist unsere Lebensrealität in Zeiten des Virus doch virtueller denn je. Der Freund, den ich vor einigen Tagen auf der Neurodungeon-Tanzfläche traf, widerspricht, dass das zu einfach gedacht ist. In der aktuellen Pandemie treten mit brutaler Deutlichkeit die Schattenseiten der Just-in-Time-Produktionszyklen, der rückbindungsbefreiten Währungssysteme und der von materiellen Besitztümern und Absicherungen entbundenen Gig Economy hervor. Und online entstehen derweil wieder kreative nutzergestaltete Räume für ein zweites Leben, in denen vielleicht so etwas wie ein Gegen-Agorithmus möglich wird.