Ideen-Kolumne

Ungelegte Eier (6)

Die kreative Mittagessens-Runde von Monopol-Kolumnist Friedrich von Borries will heute aus den gedanklichen Schubladen raus. Es geht um Kunst- und Nichtkunst, das Hinterfragen der eigenen Disziplin und unterschiedliche Perspektiven auf das Fremde

Endlich wieder Sonntag, eine neue Runde ungelegte Eier steht ins Haus. Die Kinder wollen unbedingt beim Vorbereiten helfen, den ganzen Vormittag wird geschnippelt und gerührt. Als Gäste habe ich eine bunte Mischung aus Menschen, die ich schon seit vielen Jahren kenne und Menschen, die ich noch nie gesehen habe. Die Hoffnung: Durch unterschiedliche Perspektiven zu unerwarteten Erkenntnissen zu kommen.

Zu den Menschen, die ich schon lange kenne, zählt Heike Catherina Mertens. Als Kunsthistorikerin ausgebildet, hat sie lange Jahre die Schering Stiftung geleitet. Nach einem kurzen Intermezzo beim Hatje Cantz Verlag ist sie nun Geschäftsführerin von Villa Aurora und Thomas Mann-Haus, zwei Residenzhäusern in Los Angeles. Damit hat auch ihr ungelegtes Ei zu tun, denn das Austauschprogramm der Villa Aurora feiert bald 25-jähriges Jubiläum. Mit der Kuratorin Nana Bahlmann plant sie dazu ein Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm in Berlin und Los Angeles. Und dem Arbeitstitel "Aliens with Extraordinary Abilities" wird die künstlerische Strategie der "Ostranenie“ in den Blick genommen, was, so Heike Catherina Mertens, so viel wie "Fremd-Machen", "Ent-Automatisieren" bedeute. Dabei schauen deutsche und amerikanische Kulturschaffende auf das jeweils fremde Land.

Gerade in Zeiten der politischen Entfremdung zwischen Deutschland und den USA ist die Fortführung des kulturellen Dialogs eine wichtige Aufgabe. Wie groß das Ei wird, hängt nun von vielen Fragen ab, denn Kooperationspartner und Geldgeber müssen noch gefunden werden.

Heike Mertens
Foto: Friedrich von Borries

Heike Mertens

Seit rund 20 Jahren kenne ich Felix Hoffmann. Trotzdem wusste ich nicht mehr, dass der heutige Chefkurator von C/O-Berlin ursprünglich Bildhauer werden wollte. Sein ungelegtes Ei hat auch schon einen Titel: "Send me an Image", eine Ausstellung, die sich mit der hybriden Bildgesellschaft der Gegenwart beschäftigt – und bis in die Frühzeit der Fotografie im 19. Jh. verankert wird.

Welche Verschiebungen er damit genau meint, illustriert er an einem Beispiel aus seinem Privatleben, Seine Kinder, so Felix Hoffmann, schicken ihm immer häufiger Bilder statt Textnachrichten. Wenn er aber ein Bild von einem Turnschuh bekommt, kann er die damit verbundene Botschaft nicht immer decodieren: Findet sein Sohn den Schuh nun gut oder schlecht, ist die Bildnachricht eine Form visueller Kritik oder ein Weihnachtswunsch? Wir diskutieren über Medienmündigkeit, Bildmanipulation und Wahrheit – und die Frage, ob bildgestützte Kommunikation die textbasierten Kategorien von "wahr" und "falsch" ad absurdum führen.

Felix Hoffmann
Foto: Friedrich von Borries

Felix Hoffmann

Kristiane Kegelmann habe ich erst einmal getroffen, fand aber gleich spannend, dass sie eine hybride Identität hat. Zum einen ist sie autodidaktische Künstlerin, zum anderen Pâtissière. Als Ei stellt sie ihr nächstes künstlerisches Projekt vor, sie will Wolkenfotos, die sie in alten Fotoalben ihres Vaters entdeckt hat, mit Life-Projektionen von Himmelsbildern überlagern.

Sie berichtet, dass es immer wieder Konflikte zwischen ihren beiden Berufsidentitäten gibt, die sich in manchen Arbeiten auch berühren, etwas, wenn sie als Künstlerin mit Lebensmitteln arbeitet. Natürlich interessiert sich die Runde – wir sind schließlich zum opulenten Mittagessen verabredet – auch für ihre Pralinen, die von manchen auch für Kunstwerke gehalten werden.

Davon ausgehend diskutieren wir über Selbstbild und Fremdwahrnehmung, über Kunst und Kunsthandwerk, um schließlich bei der Grenze zwischen Dekadenz und Menschenverachtung zu landen – ausgelöst durch ein Bild einer mit Blattgold belegten Praline. Deutlich wird dabei, wie unterschiedliche Kontexte die Wahrnehmung von Wirklichkeit bestimmen.

Kristiane Kegelmann
Foto: Friedrich von Borries

Kristiane Kegelmann

Um die Verschiebung von Wahrnehmung durch unterschiedliche Kontexte geht es auch bei Pujan Shakupa. Der Künstler und Filmemacher wurde im Iran geboren, trotzdem (oder gerade deshalb) hat er sich in seiner künstlerischen Arbeit einer Auseinandersetzung mit iranischen religiösen Themen bislang verweigert – aus Sorge, dann auf dieses Thema reduziert zu werden.

Mit dieser Vorsicht ist nun Schluss, denn sein ungelegtes Ei, an dem er gerade brütet, ist ein Film über die Aschura-Zeremonie. Die Aschura-Zeremonie ist eine symbolisch (und politisch) stark aufgeladene Trauerprozession, bei der die Schiiten einer Schlacht im Jahr 680 gedenken, dem Ausgangspunkt der bis heute den Islam prägenden Aufspaltung zwischen Sunniten und Schiiten. Ihn interessiert dabei die Dimension des Rituellen, die Überlagerung von Askese und Popkultur, von religiöser Ekstase und zeitgenössischer Performance-Kultur.

Pujan Shakupa
Foto: Friedrich von Borries

Pujan Shakupa

Um eine politische Perspektive geht es auch bei dem Grafiker Ingo Offermanns, dessen Kollege an der HFBK Hamburg ich seit nun zehn Jahren bin. Ihn ärgert, dass im Bereich der Grafik zu wenig über die eigene Disziplin nachgedacht wird, es keine eigene Theoriebildung gibt – anders als zum Beispiel in der Architektur oder im Produkt-Design.

Eine Entsprechung zu den Debatten um Social Design, so Ingo Offermanns, die das klassische Selbstbild von Produktdesignern radikal in Frage stellen, gäbe es im Grafikdesign kaum. Das Fehlen eines disziplinären Diskurses würde man auch in der Museumswelt beobachten können, wo vorallem historische Perspektiven oder Ausflüge in die Welt der Kunst dominieren würden – aber eben nicht die Auseinandersetzung mit aktuellen Fragestellungen der eigenen Disziplin.

Sein schon halbgelegtes Ei ist eine Ausstellung mit dem Titel "Visuelle Abrüstung". Dabei möchte er auch einen Rollenwechsel vornehmen, statt wie sonst "Übersetzer" wird er nun selber Autor sein. Und die Ausstellung soll nicht in Deutschland, sondern in China starten. Dabei interessiert ihn, den eigenen Blick zu hinterfragen. Außerdem hat er eine ganz besondere Beziehung zu China: Von dort stammt sein Mann Shuchang Xie.

Ingo Offermanns
Foto: Friedrich von Borries

Ingo Offermanns

Shuchang Xie lebt seit acht Jahren in Deutschland, studiert Film an der HFBK Hamburg bei Angela Schanelec und bereitet gerade seinen Abschlussfilm vor. Aber in seiner Kultur, so berichtet er, rede man nicht so viel über sich selbst. Über sein Filmprojekt, sein bereits gelegtes, aber halt noch nicht gekochtes Ei, erzählt er dann doch: Sein Film soll reflektieren, wie man über das Leid der anderen erzählen kann. Er berichtet vom Tod, ohne dabei, wie er sagt, zu dramatisieren. Dann erzählt Shuchang Xie von China, von seiner Heimat, die für ein Staudammprojekt überflutet wurde, von der dortigen Lebenssituation und den unterschiedlichen kulturellen Perspektiven.

Und so denken wir beim Nachtisch gemeinsam darüber nach, wie man das Schubladendenken (wie z.B. Auftragnehmer und Auftraggeber) vermeiden kann, wie man aufhört, in festgelegten Kategorien (wie z.B. Kunst und Nicht-Kunst) zu denken und Offenheit für Fremdes (ob im Iran, in China, in den USA oder bei uns) erhält. Und ja: Unterschiedliche Perspektiven ein- und anzunehmen, kann dazu ein kleiner Beitrag sein.

Shuchang Xie
Foto: Friedrich von Borries

Shuchang Xie