Venedig-Filmfestival

Das Niveau war ungewöhnlich hoch

Beim Filmfest Venedig gewinnt "L'événement" die höchste Auszeichnung. Das Werk von Audrey Diwan erzählt von einer jungen Frau, die um eine Abtreibung kämpft. Andere Juryentscheidung sind hingegen kaum nachvollziehbar 

Einige Favoriten gehen leer aus, das ist klar. Zumal das Niveau in diesem Venedig-Wettbewerb ungewöhnlich hoch war. Schmerzlich unter den Mostra-Preisträgerinnen und -Preisträgern vermisst man Paul Schraders "The Card Counter", dessen Auseinandersetzung mit einem dunklen Kapitel jüngerer US-Geschichte hätte eine Würdigung ebenso verdient wie "Leave No Traces", Jan P. Matuszyńskis Film über das Polen des Jahres 1983, dem auch die Sorge über die heutige Entwicklung Polens im Griff der PiS-Partei eingeschrieben ist. 

Matuszyński zeigt Geschichte in schmutzigen 16-mm-Bildern, während die Französin Audrey Diwan in ihrem Film "L’événement" – verdienter Gewinner des Goldenen Löwen – den Sprung zurück in die 60er-Jahre weitgehend unsichtbar macht. Die Protagonistin, ihre Gefühle, ihre Probleme wirken überaus aktuell. Die Geschichte der jungen Anne, die ihr Kind nicht bekommen will, wirkt dadurch überaus heutig. Mit Blick auf die rigiden Abtreibungs-Regelungen in Texas und Polen muss man sogar sagen: Nicht einmal die mittelalterlichen Moralvorstellungen, die der Film schildert, wirken noch aus der Zeit gefallen – leider. Diwan erlaubt sich in ihrem großartigen Drama um eine junge Frau, die über sich und ihren Körper selbst bestimmen will, keine historische Relativierung. Wenn Anne am Ende ihre Abtreibung – ein Eingriff, den ihr Ärzte verwehren – nur knapp überlebt, geht das unmittelbar unter die Haut: Eine Geschichte, die sich hier und heute ereignen könnte.

Eine andere Juryentscheidung ist weniger nachvollziehbar. Warum der Große Preis der Jury für das Familiendrama "È stata la mano di Dio"? Der Film, in dem Regisseur Paolo Sorrentino seine neapolitanische Jugend verarbeitet, kann sich mit der poetischen Kraft von Sorrentinos "La Grande Bellezza – Die große Schönheit" (2013) kaum messen. Sorrentinos autobiografische Coming-of-Age-Geschichte erzählt von einer Kindheit, entlang der Karriere des Fußballstars Diego Maradona. In den 1980ern kickte der Argentinier für den SSC Neapel und sorgte für die größten Erfolge der Vereinskarriere. Die "Hand Gottes" im Titel bezieht sich auf Maradonas regelwidrig mit der Hand erzieltes Tor 1986 in Mexiko (als Mannschaftskapitän der argentinischen Nationalelf), das aberkannt und von Maradona nach vier Minuten mit einem richtigen Tor gegen die Engländer wieder wettgemacht wurde. "La mano di Dio" scheint aber auch im Spiel zu sein, wenn der heranwachsende Fabietto (Sorrentinos Alter ego) einen Unfall, bei dem seine Eltern sterben, nur deshalb überlebt, weil er zu Maradonas Auswärtsspiel nach Empoli reist. Der Tod der Eltern reißt den Film zwar etwas aus seiner Episodenhaftigkeit heraus, aber zu den herausragenden Wettbewerbsfilmen zählte "La mano di Dio" sicher nicht. Den Marcello Mastroianni Award als Nachwuchsschauspieler gönnt man dem Fabietto-Darsteller Filippo Scotti, zwingend war das Jury-Votum aber auch hier nicht ("Die Hand Gottes" soll zum Jahresende in den Kinos und beim Streamingdienst Netflix laufen).

Stärken Eindruck am Lido machte "Il Buco" ("Das Loch"), Michelangelo Frammartinos semidokumentarischen Film über eine Höhlenexpedition in Kalabrien. Dafür stattete Frammartino eine Schar junger Höhlenforscher mit einer alten Ausrüstung aus und filmte die Männer, wie sie die historische Expedition nachspielten. Parallel dazu erzählt der Italiener von einem alten Ziegenhirten, der in den Bergen sein Tagwerk verrichtet und eines nachts von Dorfbewohnern sterbend aufgefunden wird. Die Figur stammt aus "Vier Leben", mit dem Frammartino 2010 einen Überraschungshit landete. In "Il Buco" wird die Reise ins Unbekannte, zu der die Höhlenforscher aufbrechen, mit dem Sterben des Alten enggeführt: Die Lebensreise als unlösbares Geheimnis.

Was die reinen Spielfilme angeht, so kamen Bong Joon Ho ("Parasite") und seine Jury vor allem an "The Power of the Dog" kaum vorbei. Für ihren ungewöhnlichen Western um einen Viehzüchter (herrlich verkniffen: Benedict Cumberbatch), der seine Homosexualität hinter Machismo-Gehabe zu verbergen sucht, hat Jane Campion – nach langer Kino-Auszeit – den Regiepreis des Festivals mehr als verdient (Filmstart: 1. Dezember bei Netflix, eine Kinoauswertung von "The Power of the Dog" ist noch ungewiss).

Es war unterm Strich ein Festival der starken Regisseurinnen, und so hat neben Altmeisterin Jane Campion auch Maggie Gyllenhaal für ihr Regiedebüt "The Lost Daughter" ihren Silbernen Löwen redlich verdient. Der Preis geht allerdings an die Drehbuchautorin Gyllenhaal. Als Schauspielerin bereits renommiert, hat die Amerikanerin einen eher unbekannten Roman der italienischen Schriftstellerin Elena Ferrante adaptiert. Es sei nicht verschwiegen, dass die Hauptdarstellerin Olivia Colman großen Anteil an der Wirkung des Films hat – in der Rolle der widersprüchlichen Literaturprofessorin Leda, die vom Gefühl geplagt wird, eine Rabenmutter gewesen zu sein (Kinostart: 17. Dezember).

Der Coppa Volpi – der Darstellerinnenpreis des Festivals – ging aber nicht an Colman, sondern an Penélope Cruz – für ihre Rolle in Almodóvars Eröffnungsfilm "Parallele Mütter". Sehr souverän gestaltete Cruz diesen schwierigen Part einer Spätgebärenden, der einige Enthüllungen und Wendungen bevorstehen, die man sonst nur von Seifenopern kennt. Der Fillipino John Arcilla darf sich über den Darstellerpreis für seine Hauptrolle in dem Polizeifilm "On the Job: The Missing Eight" freuen.