Drei Goldene Löwen wurden auf diesen Filmfestspielen vergeben. Die Ehrenpreise alla carriera für Werner Herzog und Kim Novak standen vor Festivalbeginn fest, und wie immer kam zum Schluss die Trophäe für den besten Film dazu. Allerdings, das Votum der Jury für "Father Mother Sister Brother" vom US-Altmeister Jim Jarmusch wirkt ähnlich befremdlich wie der Hauptpreis im vergangenen Jahr für Pedro Almodóvar. Wobei Jarmuschs insgesamt enttäuschender neuer Episoden-Film seine Familienaufstellungen wenigstens nicht so unterkomplex behandelt wie Almodóvar das heikle Sterbehilfe-Thema in "The Room Next Door".
Trotzdem zeichnet sich hoffentlich kein Venedig-Trend ab, der darin besteht, den Goldenen Löwen des Wettbewerbs in die Preiskategorie "für das Lebenswerk" umzuleiten. Eine Festivaljury sollte künstlerische Höhenflüge auszeichnen - und keine mittelprächtigen Alterswerke.
Der letzte richtig starke Jarmusch-Film war vor 12 Jahren "Only Lovers Left Alive". Sein 16. Streifen markierte nun immerhin das Wettbewerbs-Debüt des US-Amerikaners in Venedig; sonst war der 72-jährige Autorenfilmer auf Cannes abonniert, wo man "Father Mother Sister Brother" aber in diesem Frühjahr nicht nominieren mochte. Schicken die Venezianer also einen giftigen Gruß an die Croisette: "We love Jim, you lost him"? Nicht völlig ausgeschlossen, dass solches Kalkül hinter der Löwenwahl steckt. Andererseits: Mostra-Direktor Alberto Barbera soll diesen Film auch nicht gerade geliebt haben.
Daddy hat noch ein Date mit Shirley
Die erste Episode überzeugt noch. Jeff (Adam Driver) und Emily (Mayim Bialik) statten ihrem alleinstehenden Vater (Tom Waits) einen Besuch ab. Der Witwer lebt in einem abgelegenen Haus im verschneiten New Jersey und spielt seinen suboptimalen Gesundheitszustand vor den Kindern herunter, wie die Alten das oft tun. Die Stimmung ist angespannt, gesäumt von peinlichen Gesprächspausen; nie wird so richtig klar, ob Jeff und Emily primär an ihren eigenen Problemen knabbern oder wirklich so besorgt um den Erzeuger sind, wie sie vorgeben.
Das Trio ist bis in die bitteren Zwischentöne hinein wunderbar aufeinander eingespielt, Tom Waits eine Wucht als Eremit, der es letztlich kaum erwarten kann, dass seine Gäste abziehen. Daddy hat nämlich noch ein Date mit Shirley, seiner neuen Flamme.
Der in Dublin siedelnde Mittelteil "Mother" funktioniert nach demselben tragikomischen Muster. Schweigen, Schokokekse, Smalltalk, Sticheleien. Cate Blanchett und Vicky Krieps spielen ungleiche Schwestern, die ihre Mutter Charlotte Rampling besuchen. Keine Sekunde verschwinden die Stars hinter ihren Rollen, und der Regisseur und Drehbuchautor in Personalunion kommt in den Dialogen nicht über mäßiges Sitcom-Niveau hinaus.
Wir müssen also reden. Eigentlich
In der finalen Episode "Sister Brother" taucht Jarmusch emotional ein wenig tiefer ein. Indya Moore und Luka Sabbat trauern als Zwillingspaar in Paris um die Eltern, die vor Monaten bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen. Bei der Wohnungsauflösung wird den Geschwistern klar, wie wenig sie über Vater und Mutter wussten. Die Ahnen könnten dir fehlen – so Jarmuschs mutmaßliches Fazit –, wenn sie schon nicht mehr da sind. Wir müssen also reden. Eigentlich.
Bei den Hinterzimmergesprächen von Festivaljurys würde man gerne mal Mäuschen spielen. Wie lief das jetzt in Venedig? Einträchtig oder von Streit und zähneknirschenden Kompromissen geprägt? Die beiden im Preisranking führenden Filme, der politisch harmlose Jarmusch und das Sprengkraft bergende Gaza-Drama der tunesischen Regisseurin Kaouther Ben Hania auf dem zweiten Platz (Großer Preis der Jury), lassen eine hitzige Debatte vermuten.
Das Sujet von "The Voice of Hind Rajab" ist verfänglich, zumal die propalästinensischen Proteste auf dem Lido viel Druck aufbauten. Zudem blieben mit Gal Gadot und Gerard Butler zwei Stars des Julian-Schnabel-Films "In the Hand of Dante" dem Festival fern, nachdem sie von der Gruppe Venice4Palestine wegen ihrer Unterstützung für Israels Krieg in Gaza kritisiert wurden. La Serenissima – die Allerheiterste – war die Lagunenstadt im Festivalfieber diesmal bestimmt nicht.
Ambiguitätstoleranz verlangt dieser Film nicht
Hind Rajab hieß die palästinensische Fünfjährige, die am 29. Januar 2024 bei einer Militäraktion der israelischen Armee im Gazastreifen getötet wurde. Das Dokudrama verwendet die Originalstimme des in einem Auto mit sechs toten Familienmitgliedern stundenlang festsitzenden Mädchens und bettet den O-Ton in eine teils fiktive Handlung ein, die in der Einsatzzentrale der Hilfsorganisation Palästinensischer Roter Halbmond (PRCS) angesiedelt ist.
Schauspieler verkörpern die PRCS-Mitarbeitenden, die das Kind zu beruhigen versuchen und ihre Rettung koordinieren – beides extrem schwierige Aufgaben. Nach mehreren Stunden größter Anspannung, in der sich Verzweiflung und Hoffnung mischen, sind das Mädchen und zwei Sanitäter tot. "The Voice of Hind Rajab" trifft natürlich einen Nerv – mit seinem Fokus auf das krasse Schicksal dieses Kindes, das stellvertretend für die (nach Unicef-Zählung) 14.000 minderjährigen Opfer in den ersten zwölf Monaten der Kampfhandlungen in Gaza steht.
Den Film als genuin politisches Kino zu bezeichnen, fällt schwer. Dafür bleibt er zu sehr an der Oberfläche eines Konflikts, der seit über sieben Jahrzehnten andauert und am 7. Oktober 2023 in einem Massaker an israelischen Zivilisten eskalierte. Das ist jedoch keine Kritik an Ben Hanias Konzeption. Wer das Werk lobt – und dafür gibt es viele Gründe – sollte nur den engen argumentativen Rahmen im Blick behalten. Ambiguitätstoleranz verlangt dieser Film nicht.
Insgesamt hohes Niveau der Wettbewerbsfilme
Ganz im Gegensatz zu Olivier Assayas’ "Der Magier im Kreml", der anhand eines fiktiven Putin-Flüsterers nicht nur die jüngere russische Geschichte illuminiert, sondern das sogenannte "postfaktische Zeitalter" global in den Blick nimmt. Dieser "Zauberer" ging aber ebenso leer aus wie künstlerisch ambitioniertes Kino von Mona Fastvold ("The Testament of Ann Lee"), Park Chan-wook ("No Other Choice"), Yorgos Lanthimos ("Bugonia") und François Ozon, der mit "L’Étranger" den berühmten existenzialistischen Roman von Albert Camus grandios verfilmt hat.
"The Smashing Machine" über Karriere-Zenit und Abgang des Wrestling-Heroen Mark Kerr (von Dwayne Johnson fantastisch verkörpert) ist eine packende Filmbiografie right in the face, für die Benny Safdie den verdienten Regie-Preis zuerkannt bekam. Auch Gianfranco Rosis "Sotto le nuvole" (Spezialpreis der Jury) steht für das hohe Gesamtniveau der 21 Wettbewerbsfilme - genau wie der von Valérie Donzelli inszenierte und von ihr und Gilles Marchand nach dem autobiografischen Roman von Franck Courtès geschriebene "À pied d’œuvre" (Drehbuchpreis).
Die Auszeichnungen für die Schauspielenden sind somit auch als Würdigungen der entsprechenden Werke aufzufassen. Xin Zhilei (Coppa Volpi – Beste Darstellerin) ist die eindringliche Protagonistin des chinesischen Dramas "The Sun Rises on Us All", die auf tragische Weise an einen Mann gekettet ist, den sie nicht mehr liebt. Toni Servilio (Coppa Volpi – Bester Darsteller) brilliert in "La Grazia" als (fiktiver) italienischer Ministerpräsident, der am Ende seiner Amtszeit schwierige Entscheidungen zu treffen hat.
Die Geburt eines Stars
Und ähnlich wie bei Paula Beer 2016 erleben wir auch dieses Jahr auf dem Lido die Geburt eines Stars: Diesmal heißt die Marcello-Mastroianni-Preisträgerin Luna Wedler. In Ildikó Enyedis "Silent Friend" spielt die 25-jährige Schweizerin eine Botanik-Studentin im Marburg von 1908, die besondere Beziehungen zu Pflanzen pflegt. Der Kontakt von Mensch zu Fauna ist das große Thema dieses raffiniert zwischen drei Zeitebenen wechselnden Films.
"Silent Friend" spielt fast ausschließlich im Alten Botanischen Garten der Universitätsstadt. Die Photosynthese-Protagonisten dieses rundum beglückenden Werks sind eine Geranie und ein weiblicher Ginkgobaum.
Ganz so "stille Freundinnen", wie der Titel behauptet, sind die Gewächse aber gar nicht. Und überhaupt erzählt Enyedi mit Rascheln und Rauschen und wenig Dialog viel mehr als Jarmusch mit Familiengeplänkel zur Teestunde. Hätte "Silent Friend" den Goldenen Löwen gewonnen, wir hätten der Jury nicht widersprochen. Dieser Tage wird der Film noch auf dem Festival in Toronto vorgestellt, am 13. November läuft er in deutschen Kinos an.