Blockbuster-Schau in Amsterdam

Wie viel näher zu Vermeer?

"Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge" von Jan Vermeer
Foto: CC / Courtesy Mauritshuis Den Haag

"Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge" von Johannes Vermeer, um 1665

Ein Maler als Spektakel und Pilgerziel: Die große Vermeer-Schau in Amsterdam wird gerade vom Publikum überrannt. Das Rijksmuseum meistert diese Blockbuster-Herausforderung jedoch mit bewundernswerter Unaufgeregtheit

"Vermeer näherkommen" lautet der Titel des Blockbusters in Amsterdam, der kaum eröffnet bereits wieder ausverkauft ist. "Eine Chance, wie sie nur einmal im Leben kommt", so die Ankündigung der Ausrichter. Zumindest für 450.000 Ticket-Besitzer und -Besitzerinnen, von denen vor allem die Amsterdamer Seniorengilde das Jahrhundertevent dazu nutzt, um die Ausstellungsräume in einen Marktplatz umzufunktionieren, auf dem man in regen Austausch mit den anderen happy few gerät.

Nichts gegen gemeinschaftlichen Kunstgenuss, aber bei einem Barockmaler, der für seine intimen Szenen der Stille gerühmt wird, hätte man sich doch mehr meditative Versenkung gewünscht. Zumal das Format Miniatur überwiegt und es hohe Konzentration erfordert, bei der Bienenstock-Atmosphäre eine günstige Sichtachse zu erwischen.

Die leer ausgegangenen Amsterdamer wissen sich da bereits zu helfen. Je näher man dem Rijksmuseum kommt, desto häufiger erblickt man in den Grachten auf Mülltonnen oder Parking-Uhren Vermeers "Milchmägde", und immer wieder das "Mädchen mit dem Perlenohrring", das verlässlich verträumt den Weg zum Spektakel weist. Die überrannte Institution selbst verzichtet auf so offensichtliche Prahlerei. Die Vorderwandfront schmücken vergrößerte Details der Klassiker, bei denen man erst länger hinschauen muss, um die Puzzle-Teile mit einem bestimmten Motiv zu verbinden. Understatement at ist best. Am Eingang dann die unausweichliche Schlange, umzingelt von TV-Teams, die auch noch Tage nach der Eröffnung berichten, vielleicht, weil sie mangels Platzkapazitäten von der Pressekonferenz ausgeschlossen wurden?

Bis ins kleinste Detail ausgestaltetes Sanktuarium

Keine 50 Bilder hat der mit 43 Jahren verstorbene Johannes Vermeer gemalt. Nur 37 sind erhalten, im Besitz von 19 Sammlungen in sieben Ländern. Auf 28 von ihnen trifft man in dunklen, vom Designerteam Wilmotte & Associés mit schweren Samtvorhängen akzentuierten und getönten Wänden, die in Burgund/Mauve, Waldgrün und Nachtblau ausgekleidet sind. Ganz so, als befände man sich in einem bis ins kleinste Detail inszenierten Sanktuarium.

Auch das lange umstrittene "Mädchen mit Flöte" aus der National Gallery of Art in Washington ist dabei. Über dieses gab ein kürzlich bestelltes Team von Kuratoren, Restauratoren und Wissenschaftlern nach einer Prüfung zu Protokoll, das Bild stamme nicht von dem Meister, sondern von einem Künstler aus seinem Umkreis, der ihn nachzuahmen versuchte. Im Gegensatz zu den anderen drei Washingtoner Vermeers, die in der Ausstellung zu sehen sind, wirkten die gebrauchten Malutensilien minderwertig und die Grundierung beinhalte Fehler, die man einem Schüler zuweisen könnte. Besaß Vermeer also doch eine Werkstatt und war kein unbemerkt arbeitendes Genie, wie man lange vermutete?

Die falsche Flötistin übernimmt nun die Rolle des Kontrastmittels in einem verschachtelten Parcours aus zehn Galerien, kleinen Genreszenen, Delfter Interieurs und Kopfstudien voller unorthodoxer Blickwinkel und verschwommener Dinge wie Musikinstrumente, Landkarten, chinesisches Porzellan, türkische Teppiche, Gemälde-in-Gemälden und immer wieder Briefe in Händen von Frauen. Die Frequenz an Texten ist minimal, nichts soll die gedämpfte Weltentrücktheit der versammelten Perlen stören, keine vergleichenden Arbeiten, keine Videos und Experten-Interviews. Das Feuerwerk wird geräuschlos abgebrannt.

Der Perlenohrring war wahrscheinlich aus Glas

Das gilt auch für die neuesten Erkenntnisse des wissenschaftlichen Apparats. Man findet sie im Katalog: die Mutmaßungen darüber, dass Vermeer ein weitaus katholischerer Künstler war, als bisher angenommen, in einer Protestanten-Hochburg, in der öffentliche katholische Gottesdienste verboten waren. Man lernt, dass Jesuitenpriester den Maler an die Camera Obscura herangeführt haben, ein Instrument, das ihm half, scharfe und verschwommene Passagen abzustufen.

Man vertieft sich in Listen von Haushaltsgegenständen und die Herkunft des "gelben Satinmantels mit weißem Fellbesatz", den gleich mehrere Frauen tragen. Es war kein echtes Hermelin, eher billigeres Kaninchen- oder Katzenfell. Und der Perlenohrring? Der war wahrscheinlich aus Glas.