Villa Massimo in Rom

"Man darf den Moment jetzt nicht verpassen"

Im ersten Jahr als Direktorin der Villa Massimo in Rom setzte Julia Draganovic auf Öffnung. Dann kam Corona und die Stipendiaten verbrachten einen großen Teil ihrer Zeit im Lockdown. Nach Hause wollte trotzdem niemand
 
Der weiße Umzugswagen wird mit Kisten beladen, in den Atelierwohnungen werden die Leinwände eingerollt, letzte Erledigungen in der Stadt gemacht. Mitbringsel für Freunde in Deutschland besorgen, die Raffael-Ausstellung besichtigen, oder nochmal auf den Markt gehen. Wenn die Rom-Preisträger der Deutschen Akademie Villa Massimo in diesen Tagen die Heimreise antreten, dann verabschiedet sich ein Jahrgang, der die Hälfte der Zeit im Lockdown verbracht hat.
 
Ein Jahr, das niemand so habe voraussehen können, sagt Julia Draganovic, die Leiterin der
Kultureinrichtung. Sie ist an diesem Tag genau ein Jahr im Amt, als wir an der gelb gestrichenen, mächtigen Außenmauer des Geländes entlanggehen. Wie eine Festung könne das Gelände wirken, sagt sie. Es ist eines ihrer Anliegen, das zu ändern. Während des Lockdowns, an den sich die Römerinnen und Römer seit 11. März mit eiserner Disziplin gehalten hatten, wurde diese Mauer zur Ausstellungsfläche. "Arte per i vicini", Kunst für die Nachbarn, hieß das Projekt in der Zeit, als man wirklich nur zum Einkaufen gehen durfte.

Es gab Filmvorführungen für die Bewohner eines Hochhauses gegenüber, Konzerte. Esra Ersen hat Steintafeln an der Wand angebracht, auf denen sie in den antiken römischen Lettern persönliche Begebenheiten aus Istanbul erzählt, zu denen man sich auch hier verhalten kann. Überhaupt, sagt die seit 2006 in Berlin lebende Künstlerin, die sich mit der Parallelität von türkischer und italienischer Geschichte befasst: Hier fühle sie sich wie Zuhause. 

Die Festung wurde durchlässig
 
Es gab viele Reaktionen, Applaus von Balkonen, gemeinsames Singen. Die Festung wurde durchlässig, gerade als alle Zeichen auf Abschottung standen. Die Straße des 21. April, gewidmet dem Geburtstag Roms, führt an der Villa vorbei. Und hoch oben über der Mauer thronte über der stillen Stadt auf einer mit  fluoresziernden Farbe bemalten Leinwand die Wölfin mit Romulus und Remus, eine große Leinwand der Malerin Tatjana Doll. 
 
Die Künstlerin war mit ihrer Familie hier. Ihr Atelier 5 wurde abends regelmäßig zum Treffpunkt, "Bar 5" genannt, zum Diskutieren, und zusammen sein. "Ich hatte alle um mich herum", sagt sie auf die Frage, ob es den Impuls gegeben habe, in der Ausnahmesituation den Aufenthalt abzubrechen und zurück nach Deutschland zu gehen. Sie hat ihre Leinwände auf dem Boden ausgerollt und läuft in goldenen Pantoletten darüber, um immer neue Motive hervorzuholen. Ein Porträt von Lil' Kim in Zulu-Tracht, dazu acht Kuttenträger des Ku-Klux-Klan.

"Das entstand vor den Riots in den USA, aber es lag in der Luft." Zunächst wollte sie sich in Rom mit der eigenen christlichen Herkunft auseinandersetzen, aber dann hat sie das Vorhaben verworfen, weil andere Sachen logischer erscheinen. Zuunterst liegt das Gemälde mit der großen kraftvollen Wölfin, das überall präsente Gründungssymbol der Ewigen Stadt, von ihr noch ungesehen poppig und fast ein bisschen radioaktiv strahlend überlebensgroß dargestellt. Sie wird sie hier lassen, in der Residenz des Deutschen Botschafters, der Villa Almone, wird das Gemälde aufgehängt werden. "Mitnehmen würde mir fast wie Diebstahl vorkommen."

Alles muss neu gedacht werden
 
Das Duo Famed aus Leipzig besteht aus Sebastian Kretzschmar und Jan Thomaneck. Wenn sie in ihr Atelier in Leipzig gehen, das sich auf dem Spinnereigelände befindet, sei das wie in die Fabrik zu gehen, erzählen die beiden lachend. Hier dagegen: ein Spaziergang durch den Park. Den haben sie sogleich in ihre Arbeit aufgenommen und die von außen auf das Gelände fliegenden Samen und Sporen eingefangen. Jetzt wachsen Pflanzen daraus. Die Beschäftigung mit dem Inselstatus der Villa Massimo hat sie schon vor der Isolation durch Covid-19 interessiert. In der Zeit des Lockdown haben sie die Arbeit mit den Pflanzen kultiviert. Statt mit großem Gepäck in Rom Projekte abzuarbeiten, wollten sie offen sein, sich auf die Gegebenheiten einlassen. Die extremen, unerwarteten Umstände der letzten Monate haben das noch intensiviert.
 
Birgit Brenner hatte vor dem Lockdown begonnen, eine Ausstellung in der Galerie der Villa Massimo zu installieren. Sie wird jetzt verschoben. Stattdessen zeigte sie auf einer LED-Wand Arbeiten im Außenraum, und in ihrem Atelier unter anderem einen Film mit einzeln tanzenden Individuen, ein bisschen melancholisch, ein bisschen "vor sich hin". "Wir wissen ja, dass wir nicht so weitermachen können", sagt die in Berlin lebende Künstlerin. "Und trotzdem macht jeder weiter." Hat die Pandemie sich auf ihre Arbeit ausgewirkt? Sie überlegt. Eher indirekt, kommt dann heraus. Sie hat dann die singenden Italiener auf ihren Balkonen gesehen und hoffte einfach, dass die gezeichneten Tänzer in ihrem Film später nicht als Kommentar darauf angesehen werden würden. Denn eigentlich beschäftigt sie sich schon viel länger mit katastrophischen Zuständen.
 
"Künstler sind Experten dafür, ohne Gewissheit auszukommen", sagt Julia Draganović, als wir durch eine kleine Tür in der Festungsmauer wieder auf das verwunschene Parkgelände mit den uralten hohen Bäumen kommen. "Sie schöpfen aus dem Nichts." Alles sei neu denkbar gewesen, fasst sie den Lockdown und seine Folgen für sie selbst und die Villa Massimo zusammen. "Und alles musste auch neu gedacht werden."

Kunst ohne Grenzen

Zwischen repräsentativer Aufgabe und einem progressiven Neuerungswillen navigiert Julia Draganović bedacht und wirkungsvoll. Zum Beispiel der Garten: Früher wurde hier jedes Gänseblümchen bekämpft und der Rasen sehr kurz gehalten. Sie hat, gemeinsam mit den Preisträgern und ihren Partnern, Ideen für mehr Biodiversität entwickelt. Gras und Blumen auch mal stehen lassen, verschiedene Zonen schaffen. Die Vögel und Fledermäuse danken es. Das gehe dann bis hin zu Grundsatzdiskussionen über Schönheit mit den Gärtnern, sagt sie anerkennend. Die haben im Lockdown jetzt einen Deutschkurs gemacht. Auch der Villa-Mercedes soll einem Satz E-Fahrrädern weichen. Diese Details sagen viel aus über ein neues Status-Verständnis.
 
Ein Stipendium für den zehnmonatigen Aufenthalt an der Deutschen Akademie in Rom ist schließlich die bedeutendste Auszeichung für deutsche Künstlerinnen und Künstler im Ausland. Die Villa Massimo ist in Rom präsent, es gibt Austausch mit der Kulturpolitik der Stadt. Man ist im kulturellen Geschehen sichtbar und steht im Austausch mit den anderen internationalen Akademien. "Sie haben bewiesen, dass die Kunst keine Grenzen kennt", schrieb man ihr aus der Kulturpolitik nach der Eröffnung der Ausstellung an der Außenmauer. Ein Kompliment, über das sie sich freut. Denn damit ist mehr erreicht als mit jeder Abschlusspräsentation, die dann doch immer nur ein bestimmtes Publikum erreicht. 
 
Was sie sich noch vorgenommen hat: die Villa Massimo in Deutschland anders sichtbar zu machen. Bislang wurden die Preisträger im Anschluss an den Aufenthalt mit einem großen Abend in Berlin geehrt - alle Künste gemeinsam, Konzert, Lesung, Kunst, Dinner, Wein, Reden. Sie wünscht sich mehr Zeit für die Auseinandersetzung mit den Werken, und sie glaubt auch, dass man die Konzentration auf das Ausstellungsformat und die Berlin-Zentriertheit ein wenig aufbrechen müsse, denn es sei ja ein Preis der Länder. Könnte in Zukunft beispielsweise auch ein Konzerthaus in Baden-Württemberg Austragungsort sein? Man muss sehen, was möglich wird, sagt Julia Draganović.

Den laufenden Betrieb - es gibt außerhalb Roms noch zwei weitere Standorte, ständig Veranstaltungen, Gäste - stemmt die Villa mit einem verhältnismäßig kleinen Team aus insgesamt 15 Personen, einschließlich der Gärtner. Auf einem qualitätiven Niveau, das legendär ist. Außerdem steht eine historische wissenschaftliche Aufarbeitung der Historie der Villa auf ihrer Wunschliste. Es gibt natürlich gute Geschichten in der ganzen Historie von kultureller Exzellenz und deutschen Spitzentalenten. Prügeleien, Rivalitäten, Filmdrehs mit Humphrey Bogart. "Man darf den Moment jetzt nicht verpassen", sagt Julia Draganović, hellwach und bereit.