Bonner Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik

Viva la vibración!

Julio Le Parcs kinetisches Wandbild „Continuel Mobile“ ist in der eleganten Ausstellung „Vibración“ zentral platziert. 1963 erstmals auf der Biennale von Paris installiert, versprüht es immer noch den Charme eines „offenen Kunstwerks“, das sich in fortwährendem Wandel dem Luftzug anpasst. Die an Nylonfäden hängenden Stahlquadrate des Argentiniers schimmern verführerisch im Licht und werfen zarte Schatten auf die Agora gegenüber. Dank der großzügigen Architektur des Ateliers Brückner, das den Parcours mit Boulevards und sogar einer Sackgasse ausstattet, macht diese sogleich Lust aufs Flanieren. Man gibt sich großstädtisch, und das ist natürlich kein Zufall. Schließlich atmen die Werke aus der großartigen, in Europa noch nie gezeigten Sammlung der Stiftung Ella Fontanals- Cisneros aus Miami in jedem Detail den Aufbruch in eine neue Ära, getragen von dem utopischen Glauben an eine Gesellschaft, die sich von Gegensätzen befreien könnte.

Vertraute Punkte, Linien und geometrische Körper in gelb, rot und schwarz, das europäische Alphabet der klassischen Moderne, sind das Fundament für einen eigenen Blick auf die urbane Dynamik von rasant wachsenden Städten wie Rio de Janeiro oder Buenos Aires. Die Megametropolen dienen als Reibungsfläche, nicht zuletzt, weil viele Künstler Aufträge für den öffentlichen Raum erhalten. Das rechtwinklige System der Stadtplanungen schlägt sich nieder in einer bildenden Kunst, die vor allem dem Raster huldigt, wie etwa Gregorio Vardánegas Holz-Glas-Skulptur „Elektronische Multiplikation III“ von 1966, elektrisch betriebenes Lichtspiel inklusive.

Nebenan rotieren Kreiselemente, optische Effekte irritieren das Auge und tauchen die Wahrnehmung in einen Flimmerzustand ein. Als Meister fließender Bewegungen erweist sich auch Jesús Rafael Soto mit seinen „Vibrationsbildern“ aus Metall und Nylonfäden. Hier lässt es sich gerne verweilen, zumal die hypnotische Wirkung lange anhält. Die auf Augenhöhe mit den Bildern und Objekten konkurrierenden Fotografien von der Planstadt Brasília oder des Universitätscampus in Caracas zeugen vom progressiven Zeitgeist. Man experimentiert mit den Strukturen im Stadtbild, huldigt dem Ornament der Dächer mit geometrischen Mustern. Der am Bauhaus geschulte Blick ist nur der Anfang. Im Atelier wächst man über sich hinaus, schreitet zur Collage, Buchskulptur und kinetischem Zauber über, als gelte es, mit allen Mitteln das Überleben zu feiern.

Zu den vor dem Nazi-Terror glücklich Entkommenen zählen viele der in Bonn versammelten Impulsgeber. Ein Drittel der Emigranten stammen aus dem deutschsprachigen Raum. Der Bauhaus-Fotografin Grete Stern, der Schweizer Malerin Mira Schendel und der in Stuttgart geborenen Gertrud Goldschmidt sind deshalb eigene Kabinette gewidmet. Alle drei sind eine Wiederentdeckung. Vor allem „Gegos“ Assemblagen aus Drähten, Bügeln und anderen gefundenen Gegenständen faszinieren in ihrer Flüchtigkeit. Sie stehen für die anarchische Seite einer in ihrer neuen Heimat Venezuela praktizierenden Architektin, die in den Kunstarbeiten mit großer Lust ein geheimnisvolles, antirationales Wirrwarr entwirft.

Die Ausstellung mit rund 200 Gemälden, Skulpturen, Zeichnungen und Fotografien ist ein Glücksfall, lenkt sie doch den Blick fort von den üblichen Verdächtigen wie Frida Kahlo, von figurativen Bildwelten oder magisch aufgeladenen Realismus. Sie stellt anschaulich unter Beweis, dass der lange verkannte Kontinent eine beachtliche Traditionslinie innerhalb der internationalen Abstraktion zu bieten hat. Dass wenig mehr als ein Dutzend der 85 Künstler, darunter auch ein Weltstar, der in Argentinien geborene Lucio Fontana, hierzulande ein Begriff sind, dürfte sich nach dieser alle Sinne ansprechenden Schau ändern, zumal die großen Häuser längst ihre Fühler nach der lateinamerikanischen Avantgarde ausgestreckt haben. Das MoMa, Guggenheim und die Tate haben Kustoden für Lateinamerika eingestellt und stopfen eifrig die Sammlungslücken, eine Neubewertung ist endlich im Gange.

"Vibración. Moderne Kunst aus Lateinamerika", Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, bis 30. Januar 2011