"Pique Dame" in London

Wahnsinn, Spiel und Opernglück

Am Royal Opera House in London wiederholen Regisseur Stefan Herheim und Künstler Philipp Fürhofer ihre fantastische Deutung des Dramas "Pique Dame" von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky. Demnächst wird die Inszenierung live in deutschen Kinos übertragen

​Tschaikowsky wird gespielt - diesmal muss man das wörtlich nehmen. Denn Stefan Herheim inszeniert "Pique Dame" als Seelendrama des schwulen Komponisten. Überhaupt: Mehr Tschaikowsky als in der Royal Opera in London geht nicht, schließlich ist die Bühne rammelvoll von Klonen des früh ergrauten Pjotr Iljitsch. Der Männerchor, der in Tschaikowskys spätem Musikdrama um unterdrückte Leidenschaften, an denen man wahnsinnig wird, viel zu singen hat, tritt in Kostüm und weißbärtiger Maske des von Selbstekel geplagten russischen Komponisten (1840-1893) auf.

Herheims klaustrophobisch-bildstarke "Pique Dame" feierte in London die zweite Premiere, zuerst wurde die Koproduktion mit der Niederländischen Nationaloper 2016 in Amsterdam aufgeführt. Bei den Dimensionen des Bühnenbilds wurde vor drei Jahren bereits das Haus am Covent Garden mitgedacht. Philipp Fürhofer, der neben dem Set auch die Kostüme entwarf, zählt zu den wenigen bildenden Künstlern, die effektiv für die Bühne arbeiten können. An Negativbeispielen, zuletzt Georg Baselitz im eindimensionalen Münchener "Parsifal", mangelt es nicht. Anders Fürhofer. Mit nur wenigen dreh- und klappbaren Wand-Elementen schafft der Künstler Szene für Szene neue Räume - ein Psycho-Labyrinth des genialen, mit seiner sexuellen Orientierung hadernden Komponisten. Zusätzliche Dimensionen ergeben sich durch von hinten beleuchtete, halbtransparente Wandflächen oder durch Spiegelfolien. Entsprechend der über Zäsuren hinweginszenierenden Ästhetik Herheims gehen die Raumzustände oft so unmerklich ineinander über, das die Zuschauer völlig in die erzählte Geschichte eintauchen können.

Ausdrucksvoll, aber mit stumpfer Höhe schultert der lettische Tenor Aleksandrs Antonenko die immens schwere Rolle des Offiziers Hermann, der sich in die mit einem Fürsten verlobte Lisa (trotz leichter Indispositon bald leuchtkräftig: Eva-Maria Westbroek) verliebt hat. Lisas Großmutter, die wegen ihrer früheren Spielleidenschaft Pique Dame genannte alte Gräfin (grandios: Felicity Palmer) kennt angeblich ein Geheimnis, mit dem man jedes Kartenspiel gewinnt. Hermann hofft, an das Mirakel der "drei Karten" zu kommen und damit an Geld, um sich und Lisa eine rosige Zukunft zu sichern. Die Angebetete wiederum ist Hermann ohnehin längst verfallen. Doch die von Hermann belagerte Gräfin stirbt vor Schreck, Lisa geht ins Wasser, Hermann gibt sich am Ende eines verlorenen Kartenspiels die Kugel.

Bei Puschkin, aus dessen "Pique Dame"-Erzählung Tschaikowskys (ebenso schwuler) Bruder Modest den Operntext entwickelte, überlebt das Paar – wenngleich Hermann wahnsinnig wird. Einen Nebenbuhler gibt es bei Puschkin noch nicht. Die Tschaikowsky-Brüder erfanden den mit Lisa verlobten Fürsten Jeletzki als idealisierten Bariton-Gegenpart zum spielsüchtig-neurotischen Tenorhelden. Jeletzki verkörpert alles, was der mit sich und der Welt hadernde Hermann nicht ist. Herheims Besetzungscoup: Jeletzki und Tschaikowsky sind in seiner Deutung ein und dieselbe Person (wie schon in Amsterdam eindringlich gespielt und gesungen von Vladimir Stoyanov). Während der seine Homosexualität unterdrückende Musiker von einer Existenz als Vorzeige-Hetero träumt, sitzt er, Tschaikowsky-Jeletzky,  am Flügel und komponiert die "Pique Dame" als Ausdruck seiner wahren wirren Leidenschaften.

Zum Zauber der fantastisch ausgestatteten Inszenierung tragen die meist mehrfach codierten Requisiten maßgeblich bei: Tschaikowskys Flügel verwandelt sich in den Sarg für die Gräfin. Ein Kronleuchter beginnt zum Totengeläut der Alten zu schwingen und Weihrauch auszudünsten. Aus den sich im Handlungsverlauf anhäufenden Partiturseiten werden Spielkarten, mit denen Hermann die Partie verliert. Nicht zu vergessen: Trinkgläser mit einer wie radioaktiv glimmenden Flüssigkeit werden zuhauf von den vielzähligen Komponisten-Alter-Egos zum Trunk erhoben. Auch das gefüllte Glas ist ein biografischer Verweis, denn Tschaikowsky hat sich mutmaßlich - und womöglich absichtlich - mit choleraverseuchtem Wasser infiziert, als er ein unabgekochtes Glas davon trank.

Gewohnt souverän lotst Covent-Garden-Orchesterchef Antonio Pappano das Orchester der Royal Opera durch die schillernd-brüchige Partitur. Mariss Jansons in Amsterdam ließ allerdings mehr Zwischentöne und einkomponierte Schärfen zu, wenn die DVD-Aufzeichnung der damaligen Premiere nicht täuscht. Für die laufende Produktion muss man nicht unbedingt nach London pilgern: Die Aufführung wird deutschlandweit live in Kinos übertragen. Meet Tschaikowsky!