Kommentar

Warum "Queen of Drags" Bildungsfernsehen ist

Ermächtigung oder Ausbeutung einer Subkultur? Seit Wochen wird über die Castingshow "Queen of Drags" mit Heidi Klum diskutiert. Auch wenn die Primetime-Sendung ihre Schwächen hat – für die queere Community ist sie ein wichtiger Schritt in die Sichtbarkeit  

Dragqueens berührt man nicht.

Dragqueens sind homosexuelle Männer, die sich als Frau verkleiden.

Drag ist eine Kunstform.

Drag ist eine Parodie der Frau.

Drag ist feministisch.

Drag ist misogyn.

Drag hat keine Regeln.

Drag kann nie Mainstream werden, weil es sich dem Mainstream entgegensetzt.


Was ist wahr, und was nicht? Wie repräsentiert die Pro-Sieben-Sendung "Queen of Drags" die LGBTQ+ Community? Was ist queer? Und können wir wirklich schaffen, nicht in Schubladen zu denken?

Dragqueens drücken Sehnsucht aus - eine Sehnsucht, bedingungslos das zu sein, wer oder wie man sein will. 15 Minuten Ruhm. "Sobald der erste Pinselstrich geschminkt ist, ändert sich auch mein komplettes Wesen." Die größten Haare, die höchsten High Heels, das meiste Glitzer. Und 100.000 Euro Preisgeld.

"Queen of Drags" versammelt die ihrer Ansicht nach zehn besten Queens aus Deutschland, Österreich und der Schweiz und kürt am Ende die Gewinnerin. Die Sendung ist das erste Format dieser Art im deutschen Fernsehen, inspiriert von der US-Show "RuPaul's Drag Race", die sich schon in der elften Staffel befindet. In der ersten Folge werden die Drag-Basics für ein Massenpublikum erklärt. Aufklärungs-TV, das Deutschland braucht. Drag stehe für Toleranz, Gleichberechtigung, Akzeptanz, Vielfalt und Leidenschaft. "Es ist an der Zeit, dass die Deutschen auch mal moderner sind und sehen, was so in der Welt passiert," sagt Jurorin Heidi Klum. Sie verspricht die allererste und gleich die tollste, bunteste Drag-Show, die es je gegeben hat.

Heidi Klum als Portal zum Mainstream

Heidi Klums Bild von Weiblichkeit und Schönheit in ihrer Erfolgssendung "Germany's Next Topmodel" wird schon seit Jahren kritisiert. Jetzt schaut die queere Community ganz genau hin. Wie bewertet sie in der neuen Show? Klum, die schon bei ihren jährlichen Halloween-Parties das Verkleiden liebt, dient bei "Queen of Drags" als Identifikationsfigur für das Mainstream-Publikum.

Schon im Vorfeld zur Sendung hagelte es scharfe Kritik aus der Drag-Szene. In der Petition "Kein Foto für Heidi" war von "kulturellem Missbrauch" die Rede. Dort nannte man Klum eine Fehlbesetzung, da sie sich noch nie im Kontakt zur Drag-Szene gezeigt hätte. In der ersten Folge spricht sie das direkt an: "Ich bin offen für ALLES. Tolerant für alle Menschen. Egal was für'ne Farbe sie haben, wie alt sie sind, wo sie herkommen oder wen sie lieben. Ob das ein Mann oder eine Frau ist – aber dann finde ich das so intolerant … weil ich hetero bin, weiß bin – und eine Frau bin. Das ist total gemein. Das passt doch irgendwie nicht zusammen. Drags müssen eine Plattform haben und richtig gesehen werden." Es heißt, Klum habe sich für die Sendung zur Prime-Time stark gemacht.

Kann Heidi eine queere Ikone sein?

Ein anderes Jury-Mitglied, Bill Kaulitz, wird weniger kritisch von der queeren Community betrachtet. Er hat 2005 während des Erfolgs seiner Band Tokio Hotel als geschminkter Mann gezeigt, dass es dabei ganz egal ist, ob er hetero-, homosexuell oder etwas anderes ist. Er entzieht sich einer Kategorisierung seiner Sexualität und damit verbundenen gesellschaftlichen Erwartungen. Das deutsche Publikum war davon entweder geschockt und empört oder hat ihn für seine Authentizität und seinen Mut gefeiert.

Genauso ging es der dritten Person in der Jury, Conchita Wurst, als sie 2014 Gewinnerin des "Eurovision Song Contest" wurde. Sie steht als Tom Neuwirth, Conchita Wurst, Conchita oder einfach Wurst in der Öffentlichkeit und genießt sichtlich die Verwirrung, die durch die verschiedenen Namen und Erscheinungsbilder beim Publikum ausgelöst wird.

Kaulitz und Wurst wurden durch ihre sensationellen Erfolge in der Vergangenheit über Nacht zu Queer Icons. Aber kann Klum das auch? Die queere Community diskutiert. Aber was ist eigentlich genau gemeint, wenn von dem Begriff die Rede ist?

Queer ist ein Regenschirmwort

In der Abkürzung LGBTIQ+ steht das Q für "Queer" oder "Questioning". Queer bezeichnet nicht nur eine Andersartigkeit gegenüber der Norm, sondern ebenso das Hinterfragen dieser Normen: ihrer Wichtigkeit, Qualität und Existenz. Viele können den Begriff nicht genau begreifen, gerade weil er sich einer genauen Kategorisierung entzieht. Kann man queer sein, obwohl man heterosexuell ist? Die Antwort ist: Ja.

Queer ist ein Regenschirmwort, unter dem sich alles, was nicht geradlinig (heteronormativ) ist, versammeln kann. Dazu können neben Sexualität und Gender auch Infragestellung von (westlichen) Körpernormen, Hautfarbe und Behinderungen gehören. Die Stärke des Begriffes liegt in seiner Möglichkeit der Dekonstruktion von Kategorien.

Die Pro-Sieben-Sendung behauptet nicht von sich, queer zu sein, sondern bedient erstmal Schubladen-Denken: "Warum präsentieren sich Männer als weibliche Kunstfiguren? Was zeichnet eine 'Queen of Drags' aus? Wie verwandeln sich die oft unscheinbaren oder schüchternen Männer in hinreißende, extrovertierte Glamour-Girls, die auf der Bühne glänzen? Wer ist Deutschlands beste Dragqueen?", heißt es im Pressetext. Etwas anderes als eine heteronormative Sicht auf die Drag-Community kann man um 20.15 Uhr nicht erwarten. Drag und queere Kultur denkt jedoch viel weiter ... Beim Drag geht es nicht nur darum, Frauen darzustellen, sondern allgemein ums Darstellen.

Ruhige, kontemplative Momente

Der Mensch will in Schubladen denken, so wurde es uns beigebracht. Typisch Reality-Show werden bei ProSieben direkt die klassischen Rollen in der Drag-Villa zugewiesen: die Zicke, die Mutti, die Schüchterne und so weiter. Unser Gehirn arbeitet wie ein Ordnersystem im Büro und "Schubladendenken" vereinfacht unser Leben und Fühlen. Kategorien haben auch eine politische Relevanz, wenn es um die Durchsetzung von Rechten geht. Aber oft packen wir ähnliche Dinge in einen Ordner, versehen ihn mit einer Überschrift, so wie wir denken, und machen den Ordner zu. Drag, Travestie, Transsexuell, Transgender, was ist eigentlich der Unterschied?

Für die breite Masse gelten Dragqueens immer noch als schrille, bunte Vögel, die (häufig ein heterosexuelles Publikum) belustigen. "Queen Of Drags" übernimmt diese Wahrnehmung, versucht aber zumindest, einen Blick "hinter die Kulissen" der perfekten Illusion zu werfen.

Die Macher*innen geben sich Mühe, dem Publikum die Lebensumstände und damit verbundenen Problemen der Kandidat*innen darzustellen. Wie sieht die Lebensrealität von queeren Menschen wirklich aus? Wie schwierig ist es für einen Mann, Make Up im Alltag zu tragen? Die Show ist laut, aber kann vor allen in ihren kontemplativen, ruhigen Momenten überzeugen.

Casting-Show mit Lerneffekt

So erzählt Katy Bähm, die aus einer türkisch-deutschen Familie stammt, zum Beispiel emotional, dass sie nach ihrem Outing keinen Kontakt mehr zu ihrem Vater hat. Candy Crash findet, “die Show zeigt ein großes Spektrum an queeren Persönlichkeiten. Menschen, die ihre Boy- und Drag-Persona strikt trennen, und Menschen wie mich, bei denen die Grenzen mehr verschwimmt“.

Wir alle sollten weniger in Kategorien urteilen und Gemeinsamkeiten statt Unterschiede suchen. Wir sollten offen und neugierig darauf bleiben, durch die Geschichten anderer zu wachsen. "Queen of Drags" ist eine unterhaltende Casting-Show mit Lerneffekt. Denn nur im Wettbewerb-Format kann man Quoten machen. Ich denke aber, das deutsche Fernsehpublikum kann noch sehr viel mehr vertragen. Heidi Klum will Dragqueens endlich die Bühne geben, die sie verdienen und gibt dafür ihren alten "Germanys Next Topmodel"-Sendeplatz zur Prime Time her. Es heißt, die Show sei zuerst ohne Klum gepitcht worden, jedoch blieb die Sponsoren-Suche erfolglos.

Queere Individuen müssen überall sein

Ich wünsche mir, dass queere Narration auch anders funktionieren kann. Queere Individuen müssen in allen Bereichen der Tv-Branche gleichberechtigt sein und Entscheidungsträger werden: als Schauspieler*innen, Regisseur*innen, Produzent*innen.

Subkultur hat immer Massenkultur mit den "coolen neuen Dingen" gefüttert. Am Ende wird Subkultur vom Mainstream gekauft und dann an den Konsumenten sicher verpackt und leicht verdaulich zurückverkauft. Das nennt man Kapitalismus.

Trotzdem ist "Queen of Drags" enorm wichtig. Die Sendung klärt auf, bekräftigt und macht Mut. Wenn es um die Vielfalt von Geschlechtsidentität geht, ist jede Art von Sichtbarkeit wichtig. Let them have it, bitch!  Es nützt allen, egal, ob wir es als schwul-lesbische-, Drag-, Trans- oder Queer-Community bezeichnen. Dennoch müssen queere Menschen und deren individuelle Narrative weiterhin aktiv eigene Räume bauen, sie beschützen und dafür kämpfen, sie aufrecht zu erhalten.