Debatte

Was ist das eigentlich, so ein Museum?

Seit über einem Jahr scheiden sich die Geister an der offiziellen Museumsdefinition. Der Weltverband der Museen Icom ist wegen dieser Frage zerstritten. Was ist da geschehen? Eine Chronik der Ereignisse und ein Ausblick in die Zukunft

Es rauscht leise in der Leitung, die Stimmung ist gespannt. Eine digitale Stoppuhr läuft unbeirrbar weiter und bemisst die Verspätung, die dem Beginn der virtuellen Mitgliederversammlung vorausgeht. Am 24. Juli 2020 tagt der Weltverband der Museen Icom (International Council of Museums) zum ersten Mal in seiner Geschichte digital. Aber nicht nur wegen der globalen Covid-19-Pandemie ist die Euphorie angesichts des technischen Durchbruchs gebremst. Anfang Juli trat die Icom-Vorsitzende Suay Aksoy mit sofortiger Wirkung von ihrem Amt zurück, es folgten zwei weitere Vorstandsmitglieder und sieben Mitglieder des Ausschusses, der mit der Aufgabe zur Erarbeitung einer neuen Museumsdefinition betraut wurde. Fast ein Jahr liegt die Generalkonferenz in Kyoto zurück, bei der im September 2019 ein Entwurf dieses Ausschusses diskutiert wurde. Um diesen Entwurf entfachte eine Debatte, die zur neuen Gretchenfrage der Museen avancierte: "Nun sag, wie hast du’s mit der Definition?"

Wenn Sie Freunde oder Verwandte am Wochenende fragen, ob sie mit ins Museum gehen wollen, erhalten Sie eine prompte Antwort oder vielleicht noch die interessierte Rückfrage: Welches Museum? Zwischen Kunst-, Gewerbe-, Verkehrs- oder Naturkundemuseen decken die sammelnden und präsentierenden Institutionen ein breites Spektrum gesellschaftlicher Interessen ab. In der Regel wird ihr Gegenüber nicht zur Disposition stellen, ob es sich bei dem vorgeschlagenen Ausstellungshaus tatsächlich um ein Museum handelt. Warum ist das wichtig, und wovon wäre das abhängig?

Die aktuell geltende Icom-Museumsdefinition geht auf einen Beschluss aus dem Jahr 1974 zurück. In den späten 60er-Jahren steckte der Weltverband in einer chronischen Verschuldung. Während die Aktivitäten und Ausgaben zahlreicher wurden, blieben die Mitgliedschaftsbedingungen gleich. Für das weltweit agierende Netzwerk von Museen, die in staatlichen, kommunalen, privaten oder firmenbezogenen Kontexten agieren, sind Mitgliedsbeiträge die primäre Einnahmequelle und existenzielle Grundlage. Anfang der 70er-Jahre wurden die Satzung überarbeitet und individuellen Mitgliedern neue Rechte zuteil. Der reformierte Weltverband blühte in der neuen Handlungsfreiheit auf. Ähnlich wie vor 50 Jahren ist auch die aktuelle Debatte eine Reaktion auf gesellschaftlichen Wandel: "Gefragt ist, wie die Icom-Definition den sich verändernden Bedingungen einer globalen Weltgemeinschaft angepasst und von allen gleichermaßen als Richtschnur für professionelles Handeln eingesetzt werden kann", erklärt Beate Reifenscheid von Icom Deutschland gegenüber Monopol.

Eine Institution in Gefahr?

Zehn prominente Rücktritte folgen aber nicht auf die Auseinandersetzung über semantische Feinheiten, die Definition ist nicht des Pudels Kern. "Die Kontroverse resultiert in erster Linie aus dem Prozess, mit dem die Findung einer neuen Museumsdefinition letztes Jahr durchgeführt wurde." Beate Reifenscheid ist Leiterin des Ludwig Museum Koblenz und seit 2017 Präsidentin von Icom Deutschland. Für die derzeitige Situation sieht sie mehrere, ineinander verzweigte Gründe. Das mit der Neudefinition beauftragte Komitee MDPP, unter der Leitung von Jette Sandahl, hat nach "einem längeren Vorlauf" den Entwurf nur einen Monat vor der Generalkonferenz in Kyoto eingebracht.

In Vorbereitung für das wichtigste Forum für eine solche Entscheidung konnte der Entwurf in den nationalen und internationalen Komitees nicht ausreichend diskutiert werden. Zu allem Unglück fiel der Versand mitten in die Sommerpause, wodurch die Zirkulation zusätzlich erschwert wurde. Beate Reifenscheid erinnert sich, dass der deutsche Verband von Icom eine Reihe von National-Komitees kontaktierte, um ein Meinungsbild einzuholen: "Viele, die wir erreicht haben, waren mit einigen Begriffen und Formulierungen nicht einverstanden, weil sie – formal definitorisch, juristisch und auch für die Umsetzung im Museumsalltag – schlichtweg nicht angemessen beziehungsweise nicht passend sind." Man habe vor allem die Institution Museum mit diesem Beschlussvorschlag gefährdet gesehen und das auf breiter Basis kommuniziert. Für viele Museen ist die derzeit gültige Museumsdefinition insbesondere dann hilfreich, wenn sie mit politischen Akteuren, mit staatlichen wie kommunalen Trägern, für Mittelzuweisung argumentieren.

"In Kyoto gab es fast nur noch dieses eine Thema"

Während der Generalkonferenz in Kyoto gipfelte die Auseinandersetzung in einem hitzigen Streit darüber, ob Museen "polyphone Orte" seien, die für "soziale Gerechtigkeit" einstünden, "demokratisch" vorgingen und zum "globalen Wohlsein" beitrügen. Vergleichbar unbefriedigend mit dem Konjunktiv in einem Satzgefüge endete die Diskussion: Um Icom nicht in seiner Gesamtstruktur zu gefährden, wurde die Beschlussfassung über die Museumsdefinition mit 70-prozentiger Mehrheit der Delegierten vertagt. Stellvertretend für Icom Deutschland sieht die Präsidentin in diesen Formulierungen eine Aufweichung der legitimierenden Rahmenbedingungen: "Museen können 'polyphone Orte' sein, aber in erster Linie sind sie Institutionen, die eine physische Sammlung hegen, erforschen und vermitteln. Dies ist oftmals die Basis für Staaten und Kommunen, ihre Institutionen mit entsprechenden finanziellen, personellen wie juristischen Rahmenbedingungen zu unterstützen."

In Staaten, die eben nicht auf sozialer Gerechtigkeit und Demokratie aufbauen, könne man sich den Einsatz von Museen dafür zwar wünschen, aber nicht einfordern. Ebenso sei ein "globales Wohlsein" zwar eine erstrebenswerte Vision, aber untauglich für eine Arbeitsdefinition. In Kyoto entbrannte eine Diskussion, die den Verband, der normalerweise bei international kontrovers diskutierten Themen (Restitution, kulturelles Erbe) verantwortungsvoll eine vermittelnde Rolle einnimmt, an seine eigenen Grenzen führte.

Eine Frage der Struktur

Die Definitionsfrage schlug von Kyoto kommend Wellen in alle Strukturen des Internationalen Verbandes. Suay Aksoy nannte die Museumsdefinition 2019 das "Rückgrat von Icom", viele individuelle Mitglieder kritisierten auf staatlichen Ebenen das Vorgehen der Nationalen und Internationalen Komitees, die sich wiederum über das Vorgehen des mit der Definition beauftragten Komitees MDPP empörten. Auch bei der Jahrestagung von Icom Deutschland im November 2019 löste der vorangegangene Prozess strukturelle Veränderungen aus. Auf Schloss Nymphenburg in München kam es im Winter zu einer Spontankandidatur, die nach einer kritikgeladenen Wahlansprache direkt in den Vorstand gewählt wurde.

Seit diesem symbolischen Wahlhergang Ende 2019 hat der deutsche Museumsverband eine Umfrage durchgeführt, die Ergebnisse veröffentlicht und offene Fragen in einer digitalen Konferenz adressiert, die kurzfristig von einer analogen Zusammenkunft in Hamburg zu einem Online-Mitgliederforum umgeplant werden musste. Spätestens hier bildet sich die Polyphonie der Meinungen ab.

Ähnliche Bewegung kam auch in den internationalen Verband von Icom, dessen neuer Präsident Alberto Garlandini die erste digitale Generalversammlung moderierte. Unter den Vorzeichen der Veränderung thematisierte der vermeintliche ICOM-Krisenmanager die dringenden Fragen flüchtig, aber immer wiederkehrend. Vor der Digitalversammlung erreichten den Vorstand und das Sekretariat zahlreiche Zuschriften, die eines sichtbar machten: den Wunsch nach mehr Partizipation und Transparenz. Die in Aussicht gestellten strukturellen Veränderungen umfassen einen neu gegründeten Ausschuss MDPP2, nähere Zusammenarbeit zwischen den Komitees, den Repräsentanten und Sekretariaten und allgemein mehr Möglichkeiten zur aktiven Teilhabe. Fast schon prophetisch verkündete Garlandini: "Icom ist im Umbau. Der heutige Tag markiert einen Meilenstein dieses fortlaufenden Prozesses, an dem ich euch alle einlade, teilzuhaben." Sobald es die bürokratischen Rahmenbedingungen zulassen, wolle man die Satzung verändern, um mehr Beteiligung und Inklusion zu gewährleisten. Anders als vor 50 Jahren ist die derzeitige Icom-Krise keine Folge finanzieller Notlagen. Aber ähnlich wie vor 50 Jahren adressiert sie den Kern der solidarischen Arbeit innerhalb dieser Verbandsstruktur und der vorherrschenden Prinzipien von Partizipation und Zusammenarbeit.

Blick in die Zukunft

Nachdem Icom also seine verbandsinterne Perestroika verkündet hat, müssen die Weichen zur Bearbeitung brandaktueller Notstände gestellt werden. Beate Reifenscheid blickt der Zukunft in Hinblick auf die neue Leitung des internationalen Verbandes optimistisch entgegen: "Wir finden es ausgesprochen positiv, dass mit dem Präsidenten und den beiden Vizepräsidenten drei Personen aus drei Erdteilen an der Spitze stehen." Mit dem italienischen Präsidenten habe man eine pragmatische Entscheidung getroffen für jemanden, der auch während der Corona-Restriktionen regelmäßig im Generalsekretariat in Paris erscheinen kann. "Besser hätte es kaum sein können, wenn man über ein globales Miteinander nachdenkt."

Dieses globale Miteinander wird auch über konkrete Pläne, die Garlandini und die Icom-Schatzmeisterin Emma Nardi während der digitalen Generalversammlung erklären, in Aussicht gestellt. Ein Budget-Überschuss von 280.000 Euro aus dem Vorjahr soll für sogenannte "Solidarity Projects" zur Verfügung gestellt werden. Wie genau das Geld verteilt werden kann, soll unter größtmöglicher Mitgliederbeteiligung und durch einen "Call for Papers" definiert werden. Auch die Präsidentin von Icom Frankreich, Juliette Raoul-Duval, betonte, dass man das überschüssige Geld investieren müsse, um Museen in der Not zu unterstützen und die Arbeit zur Wahrung und Pflege kulturellen Erbes rund um den Globus in dieser Ausnahmesituation nicht zu vernachlässigen.

Generell, so betonte der Vorsitzende von Icom Australien Mat Trinca, stellt sich die Frage, welche Rolle ICOM in dieser besonderen, globalen Situation spielen möchte. Der Direktor des australischen Nationalmuseums legt damit den Finger in die Wunde: Institutionen werden nicht nur temporär, sondern teilweise dauerhaft schließen müssen, junge Kolleginnen und Kollegen verlieren ihre Arbeitsplätze und eine ganze Generation junger Künstlerinnen und Künstler, Freischaffender und Angestellter in der Museumswelt werden ihrer Existenzgrundlagen beraubt. Die Energie, die man in die internen Diskussionen gesteckt hat, müsste nun in die Auseinandersetzung mit diesen Fragen transformiert werden. Laut Mat Trinca wäre man der Rolle, die man als größter Dachverband internationalen Kulturerbes spielen sollte, jüngst nicht gerecht geworden. Zumindest in der Vergangenheit ging Icom immer gestärkt aus der Krise hervor. Ob man der verkündeten Rolle als zukunftsfähiger Verband auch begegnet, muss sich noch zeigen.