Corona-Krise

Was wir im Lockdown über das Digitale gelernt haben

Wenn ein Eisblock Häuser durchbohrt: Koo Jeong As Augmented-Reality-Arbeit für Acute Art ist ein schönes Symbol für den Einbruch des Digitalen in die reale Welt, die durch den Lockdown forciert wurde
Foto: Courtesy of the artist and Acute Art

Wenn ein Eisblock Häuser durchbohrt: Koo Jeong As Augmented-Reality​-Arbeit "density" (2019), aus der Serie "Prerequisites 7"

Während des Lockdowns haben Museen, Galerien und Kunstmessen ihr Publikum online gesucht. Zeit für ein Resümee: Was haben wir in der Krise über virtuelle Kunstpräsentation und digitale Kultur-Kommunikation gelernt?

In den ersten Wochen nach dem Lockdown habe ich eine Liste geführt, in der ich Links und Notizen zu Online-Ausstellungen abgelegt habe. Nachdem die Liste vier Seiten lang war, habe ich aufgehört und mich auf die Highlights konzentriert. Schließlich notiert man sich ja auch sonst nicht alle Ausstellungen, die international in Kultureinrichtungen eröffnen. Wer soll sich das alles anschauen? Jetzt ist das natürlich einfacher als sonst, weil man sich mit ein paar Klicks durch eine Ausstellung bewegen kann. Plötzlich waren alle "pleased" und "delighted", Kunst online zu präsentieren.

Kunst, das liest und hört man seit Wochen ständig, soll in der Krise Hoffnung geben und Trost spenden. Hoffnung aber machen aktuell wohl eher der Drosten-Podcast und Studien-Ergebnisse, also neue Erkenntnisse über das Virus, das die ganze Welt lahmgelegt und Hunderttausende Menschenleben gekostet hat. Es wird gestritten und diskutiert, ob die Maßnahmen zu hart waren, ob zu schnell oder langsam reagiert wurde und ob Christian Drosten nicht vielleicht zu viel Einfluss hat.

Die Krise hat lauter Corona-Experten und Digital-Fachleute hervorgebracht. Das zumindest steht fest. Und in einer Sache scheinen sich zumindest die neuen Digitalexperten einig zu sein: Ja, es ist gut, dass digital was passiert, aber gut ist nicht, was digital passiert. Unausgegoren sei, was man zu sehen bekomme, der Mehrwert fehle. Was also haben wir in der Krise mit Blick auf das Digitale gelernt?

1. Was muss, das muss

Plötzlich kann alles ganz schnell gehen. Wenn von einem auf den anderen Tag nur noch das Internet und die sozialen Medien bleiben, arbeitet man eben mit dem Internet und den sozialen Medien. Direktoren, Kuratoren, Galeristen und Künstler nehmen ihr Smartphone in die Hand und gehen miteinander live. Hans Ulrich Obrist spricht mit Klaus Biesenbach und Klaus Biesenbach spricht mit Hans Ulrich Obrist. Zwischendurch reden natürlich auch andere Protagonisten aus der Kunstwelt darüber, wie es nach Corona weitergeht mit der Kunst und wie es jetzt so geht, der Kunst und einem selbst. Und sogar Künstler, die bisher einen großen Bogen um die sozialen Medien gemacht haben, tauchen hier und da in Livestreams auf. Der Fotograf Juergen Teller beispielsweise.


2. Livestreams sind die neuen Podcasts

Und ja, all die Gespräche kann man awkward und unbeholfen finden, too much und langweilig. Für Nicht-Journalisten mag es überraschend sein. Oft laufen Interviews tatsächlich so ab. Zwei Menschen unterhalten sich miteinander. Was gesagt wird, ist nicht unbedingt druckreif. Im Anschluss an ein Interview wird der Text nämlich von beiden Seiten überarbeitet, manchmal geht ein Text mehrmals hin und her, weil einzelne Statements und Formulierungen diskutiert werden. In Livestreams fehlt der Journalist als Filter. So ein Livestream ist ein bisschen wie früher ein zufälliges Treffen mit dem Lieblingsmusiker. Da stellte man dann fest, dass der Lieblingsmusiker doch nicht ist, überhaupt nicht, wie man sich das vorgestellt hat. Bei Livestreams dämmert einem heute, dass ein Künstler nicht so klug oder wortgewandt, lustig oder unterhaltsam ist, wie erwartet. Und trotzdem scheint es nicht mehr ohne Livestream zu gehen.

Während vor Corona jeder unbedingt einen eigenen Podcast brauchte, muss jetzt jeder auf Instagram live gehen. Die Erklärung ist denkbar einfach: Man muss nicht auf Einladungen zu Interviews von Medien und Talks von Einrichtungen warten. Man lädt sich einfach selbst ein. Und während bei Podcasts erwartet wird, dass Sound und Schnitt stimmen, darf so ein Livestream vor sich hinholpern. Das macht es authentischer. Wer sich allerdings über die Masse an Angeboten beschwert, darf sich gern daran erinnern, dass man sich im TV und Radio ja auch nicht 24/7 anschaut und anhört, was gesendet wird.

3. Online Viewing Rooms sind Webseiten

Livestreams sind die neuen Podcasts und Online Viewing Rooms sind die alten Webseiten. Wenn Sammler nicht auf Messen und in Galerien gehen können, um Kunst anzuschauen, müssen Messen und Galerien eben zu den Sammlern gebracht werden, damit Kunst gekauft wird. Und während sich darüber gefreut wird, dass nicht mehr so viel gereist und gezahlt werden muss (für Messestände), hält sich die Freude über die Online Viewing Rooms in Grenzen. Was irgendwie aufregend klingt, ganz so, als würde man Online durch Räume voller Kunst flanieren können, wird zum Scroll- und Klickmarathon durch Bilder auf Webseiten.

Im März hätte die Art Basel in Hongkong stattfinden sollen und weil das nicht möglich war, wanderte die Messe komplett ins Netz. Das Feedback: Langweilig. Sieht alles gleich aus. Das wiederholt sich gerade bei der Art Brussels. Auf Instagram teilten Künstler in den vergangenen Tagen Bilder vom Messestand: Die Bank jedenfalls kommt sehr gut weg.


Online Viewing Rooms sind aktuell noch wie ein IKEA-Katalog mit der immer gleichen Seite. Offenbar aber wird das Angebot besser angenommen, als man denkt. Galerist Iwan Wirth sagte in der Interviewreihe #Kunstmarktnachcorona vom "artmagazine": "Es ist aber bereits jetzt klar, dass die Bereitschaft der Sammler, sich via Online-Plattformen virtuelle Messestände anzusehen und Werke zu erwerben größer ist als erwartet. Wobei die messe-eigenen Plattformen den Online-Viewing Rooms der Galerien hinterherhinken."

4. Augmented Reality ist die Zukunft

Während wir mit Blick auf die Online Viewing Rooms noch auf die Entwicklung beziehungsweise den Einsatz von neuen Technologien warten, ist die Kunst im Digitalen mit Virtual Reality und Augmented Reality schon viel weiter. Hans Ulrich Obrist sagte kürzlich im Livestream mit Klaus Biesenbach, Augmented Reality sei die Zukunft; Technologie sollten nicht nur zur Unterhaltung und zum passiven Konsum eingesetzt werden. Als positives Beispiel nannte er das Londoner Start-up Acute Art mit Daniel Birnbaum als künstlerischem Leiter und die Projekte mit Koo Jeong A und Olafur Eliasson.

Die koreanische Künstlerin lässt via App im Grünen einen Eiskubus schweben, in dem sich das Licht bricht. Der dänische Künstler bringt die Außenwelt in den Innenraum. Das klingt ein bisschen spektakulärer, als es ist. Und jetzt weiß ich auch nicht … Ich bin mir nicht sicher, ob ein Regenbogen, der über meinem Küchenboden schwebt, die Zukunft der Kunst ist. Oder eine Wolke, die es in meinem Wohnzimmer regnen lässt. Sehr sicher bin ich mir derweil, dass ich in naher Zukunft den Küchenboden putzen sollte.

Im Interview mit Monopol (06/2020) erklärt Birnbaum, wo er die Stärke dieser AR-Projekte sieht: "Die können auch partizipativ sein, der Betrachter wird eine Art Kurator und platziert die Arbeiten selbst." Und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich eine kuratorische Leistung erbracht habe, wenn ich entscheide, wo in meiner Wohnung es für ein paar Sekunden regnet. Weiter sagt Birnbaum übrigens: "Das wird nicht die Rolle des Museums übernehmen, aber das ist eine Ahnung von ganz anderen Möglichkeiten." 

Mehr Ahnung hat man, was mit AR möglich sein wird, wenn man sich ansieht, was junge Künstler auf Instagram und Snapchat an Filtern entwickeln. Da geht es auch um Partizipation, aber nicht mit dem Ziel, die Zukunft des Kuratierens zu verändern, sondern die digitale Identität zu erweitern.

5. Kriterien zur Bewertung von Kunst im Digitalen fehlen

Was dieses Beispiel deutlich macht, mehr aber noch die Diskussion über den krisenbedingten Digitalboom in den Medien: Es fehlen die Kriterien zur Bewertung von Kunst im Digitalen. Nur weil irgendetwas digital gemacht wird, ist es nicht gleich der heiße Scheiß. Nur weil irgendetwas digital gemacht wird, ist es nicht besser, "richtig" ins Museum zu gehen.

Die Diskussion, und das ist ein Phänomen im deutschen Sprachraum in den Feuilletons, kennt zwei Extreme: naive Euphorie und uninformierte Kritik. Ein Beispiel sind 3D-Rundgänge. Da heißt es entweder: "Geil!" Oder: "Hilfe, die Museen gehen unter!" Und es wird sich fleißig an der Aura des Kunstwerks abgearbeitet und festgestellt, dass das Erlebnis vor dem Original nicht ersetzt werden kann. Ich wiederhole mich, wenn ich sage: Das soll es ja auch nicht! 

Die Spitzen gegen das Digitale in den Feuilletons sind trotzdem ermüdend. In der "Zeit" konnte man kürzlich Folgendes zur Ausstellung "Monet. Orte“"im Museum Barberini in Potsdam lesen, die auch online besucht werden kann: "Wer will, kann also vergleichen, was die Unterschiede sind zwischen Bildschirm und Leinwand, zwischen digitaler Kopie und analogem Original; kann überprüfen, ob da tatsächlich eine Aura rings um das echte Bild liegt, wie Walter Benjamin vermutete. (...) Sitzt man zu Hause vor dem Computerbildschirm und steht und geht eben nicht, sondern klickt sich nur durch Ausstellungsräume, kann sich diese Wirkung nicht entfalten. Und das Licht ist immer tot, da kann man noch so viel zoomen." Vielleicht passt auch einfach die Erwartungshaltung nicht zu dem, was das Digitale leisten kann und soll.

Ich lese gerade den Roman "Weather" von Jenny Offill, der von Ocean Vuong, Jia Tolentino, Ben Lerner und Sheila Heti hochgelobt wurde. Die Protagonistin sitzt bei einem Dinner neben einem "young techno-optimist guy". Über ihn berichtet sie: "Er erklärt, dass die heutige Technologie nicht mehr seltsam erscheinen wird, wenn die Generation, die nicht mit ihr aufgewachsen ist, endlich aus dem Gespräch verschwindet. Sterben, meint er, glaube ich. Er meint damit, dass am Ende alle, die sich über das, was wegfällt, verunsichert fühlen, verschwunden sein werden, und danach wird nicht mehr über das Verlorene, sondern nur noch über das Gewonnene gesprochen werden."

Das scheint mir allerdings keine allzu optimistische Perspektive zu sein, weil das noch ein paar Jahrzehnte dauern wird. Derweil würde es schon reichen, wenn man es wie bei einem Dinner macht: Wenn man sich für Pizza entschieden hat, beschwert man sich nicht, dass es doch besser gewesen wäre, Pasta zu bestellen.