Projektraum Uqbar, Berlin

Weitergeburten

Ein kleines Glöckchen an der Tür des „Thai Asia Markt“ in Wedding kündigt neue Besucher an. Sofort steigt einem der typische Geruch eines asiatischen Ladens in die Nase. Doch heute suchen wir nicht nach Soja-Sauce, tiefgekühlten Garnelen oder Baby-Auberginen, sondern nach Kunst. Genauer gesagt nach einem Film über Frau N. aus Bangkok, Thailand. „Gibt es hier das Video von Maja Weyermann zu sehen?“ Strahlend nickt die Verkäuferin, die sich als Frau N. herausstellt und eigentlich Kanok Norachaipeerapat heißt.

Frau Norachaipeerapat führt in einen zweiten, hinteren Raum, wo sie zusätzlich einen kleinen thailändischen Mittagstisch eingerichtet hat. Sie schaltet den Film ein und serviert Fencheltee. Noch immer strahlt sie, beantwortet Fragen zum Projekt und ihrem Lebensweg: Ende der 80er-Jahre kam sie mit einem Stipendium nach Deutschland, studierte Germanistik in München, blieb der Liebe wegen in Berlin. Mit Eröffnung ihres Ladens vor vier Jahren betrat sie völliges Neuland.

Der ökonomische Wert interessiert nicht
Frau Norachaipeerapat ist eine von sieben Protagonisten, die Maja Weyermann für ihr Multimedia-Projekt „Real-Time-Nomads“ ausgewählt hat: Berliner Ladenbesitzer unterschiedlicher Herkunft. Es sind diejenigen Menschen, von denen Thilo Sarrazin behauptete, sie hätten in dieser Stadt keine produktive Funktion außer für den Obst- und Gemüsehandel. Doch der ökonomische Wert dieser Frauen und Männer, interessiert die Schweizer Künstlerin kaum. Sie befragte sie stattdessen zu ihren Kindheitserinnerungen und ließ die Wohnstätten als digital animierte Räume auferstehen. Die Traumwelten vermischt Weyermann mit Bildern der heutigen Arbeitsplätze, mit Zitaten aus den Gesprächen und landestraditioneller Musik. Das Ergebnis sind atmosphärische, teilweise geheimnisvolle Fotografien, Videos und Tonaufnahmen.

„So hat mein Elternhaus wirklich ausgesehen“, erzählt Frau Norachaipeerapat während des Films. Zusammen mit ihren Eltern und Geschwistern lebte sie in einem kleinen Holzhaus mit einem einzigen Hauptraum. Ihre Eltern führten ein gutgehendes Restaurant. Noch ganz genau kann sie sich an die Guaven-Bäume vor dem Haus erinnern. Eines Tages brannte die ganze Nachbarschaft ab. Im Film mischen sich die diffus gehaltenen Erinnerungsanimationen mit klaren Aufnahmen des Berliner Shops. Häufig schafft Weyermann die Übergänge zwischen den beiden Welten, indem sie deren Gemeinsamkeiten hintereinander setzt:  Zuerst flackert eine animierte Neonröhre an der Decke auf, dann eine zweite in einem klar umrissenen Raum. „Das eine ist ein Bild von vor 50 Jahren in Bangkok, das andere von heute, hier in meinem Laden. Doch die Lampen sind genau die gleichen“, kommentiert Frau Norachaipeerapat amüsiert die Szene.

Bereicherung und Chance
Originell ist bereits die Idee, Räume aus dem Gedächtnis fremder Menschen abzubilden. Das Projekt überzeugt aber vor allem durch den sogenannten Citywalk. Denn die Filme können zwar ausnahmslos im Projektraum Uqbar angesehen werden aber eben auch vor Ort in den jeweiligen Geschäftsräumen.

Gerade in Berlin gibt es eine große ethnische und kulturelle Vielfalt, mehr als ein Viertel der Bevölkerung stammt nicht aus Deutschland. Weyermann selbst kommt aus der Schweiz, lebte in Amsterdam, Paris und momentan in Berlin. Immer wieder treffe sie Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen, häufig politischer oder ökonomischer Art, nach Berlin kommen, erklärt sie ihre Idee zum Projekt. Anstatt über fehlende Integration zu schimpfen, sollte dieses Konglomerat als Bereicherung und Chance gesehen werden.

Eine andere Station ist der Spätkauf mit Internetcafé von Herr M.B. aus Makeni, Sierra Leone: Hinter dem Tresen begrüßt uns eine junge Frau, sie stellt sich als Schwester von Herrn M.B., der Mohamed Bah heißt, heraus. Auch sie zeigt in einen hinteren Raum, auch hier läuft der Film nicht, sondern muss erst eingeschaltet werden. Der Flachbildfernseher hängt schräg an der Wand, die Kabel ziehen sich provisorisch durch das Zimmer, hinein in den Verkaufsraum.

Was bedeutet die Kindheit für unsere Identität?
Bahs Kindheitserinnerungen zeigen einen großzügigen Raum mit zwei vergitterten Fenstern und grünen Vorhängen. Auf dem roten Teppichbogen liegt ein kleinerer gelber Teppich, darüber rollt ein Fußball. Besonders stolz war er auf drei Stühle, die für Gäste an der Wand stehen. Plötzlich verdunkelt sich der Raum – der Bürgerkrieg hat begonnen. Nach dem Film erzählt die Schwester, dass Bah hier in Berlin die „Mano River Multi Cultural Organisation e.V.“ gegründet hat. Zum einen sammelt er Spenden für Kinder in Sierra Leone, um sie von der Straße zu holen und in Schulen unterzubringen. Vor allem hat sich Bah aber zum Ziel gesetzt, die afrikanische Kultur in Deutschland und im Besonderen in Berlin zu fördern. Der Verein organisiert kulturelle Veranstaltungen, vermittelt Künstler, gibt Trommel- und Tanzunterricht. Einmal wöchentlich kommen Kinder zu einem Deutschkurs in den Laden.

Migration und Konstruktion sozialer Räume sind die Themen, die Weyermann in ihrem Projekt verbindet. Mittendrin die Frage, wie die Kindheit und die Erinnerung daran unsere Identität mit bilden. Weitere Stationen auf dem Citywalk sind ein Afro Asia Shop und ein Kameruner Treffpunkt in Wedding, ein polnisches Nagelstudio in Schöneberg, eine türkische Änderungsschneiderei in Charlottenburg und ein ungarisches Kaffeehaus in Friedrichshain.

Anstrengend aber aufregend
Sich einen Weg durch die gesamte Stadt zu bahnen ist anstrengend, aber aufregend. Es ist eine ständige Auseinandersetzung mit eigenen Klischeevorstellungen und mit Vorurteilen der anderen Seite. Die Ablehnung fremder Kulturen komme auch daher, dass man sich nicht die Mühe mache, sich mit den Geschichten anderer zu beschäftigen, sagt Weyermann. Tatsächlich erfährt man bei „Real-Time-Nomads“ erst dann etwas, wenn man sich bei Fencheltee oder zwischen Haarteilen und Nagellacken mit den Menschen unterhält. Nicht selten wird man überrascht.

Auf die Frage etwa, ob es schwierig gewesen wäre, ganz alleine nach Deutschland gegangen zu sein, antwortet Frau Norachaipeerapat ohne Zögern: „Man geht immer alleine in ein anderes Land. Schließlich wird man auch alleine geboren. Ein Umzug in ein anderes Land ist eine, wie ich es nenne, Weitergeburt.“

Verschiedene Orte, Berlin, bis 20. November