Protestbilder aus Hongkong

"Wenn wir brennen, brennt ihr mit uns!"

Obwohl die Lage in Hongkong eskaliert, gleitet die Protestbewegung aus dem Fokus der deutschen Öffentlichkeit. Die Künstlerin Zuzanna Czebatul hat die Demonstrationen erlebt und fotografiert. Und mahnt zum Hinsehen 

Bei meiner Rückkehr nach Hongkong finde ich eine gespenstisch verwandelte Stadt vor. Viele Geschäfte sind geschlossen, es sind kaum Touristen da, die Atmosphäre ist bedrückend. Sogleich fallen die Graffiti auf, die überall zu finden sind: "Free HK", "If we burn, you burn with us" (Wenn wir brennen, brennt ihr mit uns), "Carrie Lam, you dont listen, do you?“ (Carrie Lam, du hörst wirklich nicht zu, oder?) Ich kann nur die englischen Botschaften lesen. Eine andere bedarf keiner Sprache: die Abbildung des kleinen Bären Winnie Pooh, die in China verboten wurde, weil das Tierchen dem Präsidenten Xi Jingping ähnlich sehen soll. Das ist so bizarr witzig wie düster.

Eine noch viel größere Veränderung sind die Narben der Kampfschauplätze, die man überall vorfindet: Fehlende Bürgersteige, deren Steine sich am Straßenrand zu kleinen und großen Haufen türmen, demontierte Zäune, zertrümmerte Ampeln: Die pro-demokratischen Demonstranten errichten kreative Barrikaden, seitdem friedliches Demonstrieren unmöglich ist. Sie zerlegen ihre Stadt, um sie zu retten. 

Schnitt. Im August war ich schon einmal hier. Die berühmten Neonleuchtreklamen und die heitere postmoderne Architektur machten Hongkong zu einem Ort, an dem ich mich sofort wohlgefühlt habe. Das geschäftige Treiben, die multikulturellen und lebensfroh wirkenden Bewohner. Dann die Weiterreise nach Festlandchina. Die Zugfahrt über die Grenze wirkte surreal und dystopisch. Ein harter Kontrast zu Hong Kong: Stundenlang fuhren wir durch eine in dicken Smog gehüllte Landschaft. Die Sonne stand hoch und war nur ein braun-orange glimmernder Punkt am eigentlich wolkenlosen Himmel. Das war also die große Fabrik der Welt. Ein klassischer Kulturschock am Zugfenster.

"Tiananmen 2.0."

Nach zwei Wochen Herumfahren die Ankunft in Peking, eigentlich der letzte Punkt der Reise. Während der Wochen dort recherchiere ich viel zur Geschichte und Gegenwart der Volksrepublik und verfolge die Entwicklung in Hongkong mit Besorgnis. Ich kann mir nach wie vor nicht vorstellen, wie 7,5 Millionen Menschen, die bis eben noch demokratische Werte genossen haben, innerhalb weniger Monate dem totalitären Regime einverleibt werden sollten. Aufgrund der sich zuspitzenden Lage und vor dem Hintergrund meiner Eindrücke auf dem Festland, beschloss ich vor meiner Heimkehr noch einmal nach Hongkong zurückzukehren. 

Dort die völlig veränderte Metropole: Wir verfolgen die jüngsten Nachrichten auf Twitter, die Situation auf dem Campus der Chinese University eskaliert. Eigentlich darf die Polizei das Gelände nur betreten, wenn sich dort zum Beispiel Straftäter aufhalten – ein Vorwand um einen Campus zu stürmen und mit tausenden Tränengas- und Gummigeschossen sowie anderem Geschütz gegen Studierende vorzugehen. Diese versuchen, sich mit Steinen zu wehren. Tiananmen 2.0.

Währenddessen formiert sich die nächste Demonstration im Financial District. Wir machen uns auf den Weg von Kowloon nach Hongkong Island. Nicht viele Menschen tun das. Zur Rush Hour ist verhältnismäßig wenig los. Fast alle Ausgänge der "Central Station" sind geschlossen. Aus Sicherheitsgründen, oder weil sie durch die Ausschreitungen schwer beschädigt sind. Die Hongkonger U-Bahn MTR kooperiert mit der Regierung und stellt den Betrieb zu bestimmten Zeiten ein, um die Proteste zu behindern. Dieses Vorgehen erzeugt Wut und Bestürzung, die sich in Zerstörung entlädt.

Klaffende Wunden im Asphalt

Die riesige Kreuzung mitten im Zentrum des Financial District, an der sich Filialen von Luxusmarken wie Prada, Armani und Louis Vuitton reihen, ist gespenstisch: kein Auto, alle Straßen sind verbarrikadiert. Überall ausgehebelte Pflastersteine aus den umliegenden Bürgersteigen. Die klaffenden Wunden im Asphalt lassen Geschäftsleute durch Sand laufen. Kleine Türmchen mit Gittern aus Bambusstangen blockieren eindrucksvoll die Zufahrten zur Mitte der Kreuzung. An einer anderen Stelle ist Gerümpel aufgetürmt und mit aufgespannten Regenschirmen bedeckt. Darunter ein Kinderregenschirm mit Winnie-Pooh-Print. Ein irgendwie zarter Anblick, der den ungleichen Kampf zwischen den jungen Protestierenden und der hochgerüsteten und brutal vorgehenden Hongkonger Polizei symbolisiert.

Hunderte Menschen sind vor Ort, die meisten vermummt. Die Presse trägt Neon-Weste, Helm und Gasmaske. Die Sonne reflektiert in den gläsernen Oberflächen der Wolkenkratzer. Eine Filiale der chinesischen Bank of Communications ist aufgebrochen, trotz Barrikade. Viele Chinesische Banken und Geschäfte in der Stadt sind geschlossen und verbarrikadiert. Sie wurden im Laufe des Sommers als Symbole zerstört.

Aus der Menschenmenge ertönt eine einzelne Stimme, der ein ganzes Ensemble der Umstehenden folgt: "Five Demands! – Not one less!". Die Passanten, Touristen wie Geschäftsleute, starren irritiert. Die meisten fotografieren. Manche bleiben, andere eilen weiter. Einer verteilt  Wasserflaschen an die Demonstrierenden. Von den Gebäudebrücken schauen die Menschen hinunter. Die meisten davon sind vermutlich Expats und arbeiten an der Börse ein paar Meter weiter. Die Ausfahrten zu den umliegenden Highways sind versperrt: mit Steinen, Mülltonnen und allem, was sich schnell von irgendwo anschleppen lässt.

Organisiert und entschlossen

In der Abenddämmerung bewegen sich kleine Gruppen in Richtung einer abgehenden Straße. Junge Frauen und Männer zerren riesige Pflanzenkübel auf die Fahrbahn. Regenschirme werden aufgespannt, um diejenigen, die auf Ampeln klettern und sie zertrümmern, vor Kameras zur schützen. Jeder in dem Gewusel scheint seine Aufgabe zu kennen. Immer wieder stellen sich kleine Gruppen zur Lagebesprechung zusammen. Proviant von McDonalds und Wasserflaschen liegen auf dem Boden. Arbeitshandschuhe werden nach Benutzung ausgezogen und an sichtbaren Stellen für den nächsten Gebrauch hinterlegt. Diese Menschen sind beeindruckend gut organisiert und entschlossen. Sie tragen pragmatische, oft dunkle Sportbekleidung. In kürzester Zeit bauen sie eine riesige, wenngleich zarte, symbolische Festung inmitten der asiatischen Finanzmetropole. Vielleicht ist die Message auch: Das ist ihre Stadt. Nicht Pekings.

Die Bevölkerung Hongkongs unterstützt die Demonstrierenden auf nicht weniger kreative Art: Demonstranten flüchten nach Eintreffen der Polizei und der Eröffnung der Jagd in umliegende Restaurants. Dort nehmen sie ihre Masken ab und setzen sich an einen Tisch, während die Gäste so tun, als säßen sie da schon die ganze Zeit zusammen. "Be Water". Ich verstehe jetzt besser, was das bedeutet.

Amnesty International ruft die Weltgemeinschaft

Es ist unklar, wie viele Menschen dem brutalen Vorgehen der Polizei bereits zum Opfer gefallen sind. Nachdem ein 20-Jähriger in einem Parkhaus zu Tode gekommen ist, wurde am Mittwoch ein weiterer junger Mann bewusstlos mit tiefen Schnittwunden aufgefunden. Wenige Stunden später erlag er seinen Verletzungen. Der nackte Körper eines 15-Jährigen Mädchens trieb im Hafen. Amnesty International berichtet von Folter und Vergewaltigung von festgenommenen Demonstrierenden. Die Menschenrechts-Organisation ruft die Weltgemeinschaft zum Handeln auf.  Journalisten werden angegriffen, die Zivilbevölkerung drangsaliert. Auch wir stehen im Tränengas. Und in Tränen. Wen ruft man wenn der Rechtsstaat nicht mehr greift, wenn die Polizei zum Täter wird?

Nach der Rückgabe Hongkongs an China im Jahr 1997 sollte es nach dem Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" regiert werden - wobei die Rechte und Freiheiten Hongkongs für weitere 50 Jahre gewahrt bleiben sollten. Diese Freiheiten werden jedoch sukzessive beschnitten, da die Regierung zunehmend im Sinne der Kommunistischen Partei Chinas handelt. Als die Proteste in Hongkong im Juni dieses Jahres begannen, forderten die Menschen die Rücknahme eines Entwurfs für ein verschärftes Auslieferungsgesetz. Im Laufe der Proteste wurden fünf zentrale Forderungen formuliert:

1. Vollständige Rücknahme des Auslieferungsgesetzes

2. Eine unabhängige Untersuchungskommission wegen angeblicher Polizeibrutalität

3. Widerruf der Klassifizierung von Demonstranten als "Aufständische"

4. Amnestie für verhaftete Demonstranten

5. Duale allgemeine Wahlen, das heißt, sowohl für den Gesetzgebenden Rat als auch für den Hauptgeschäftsführer

In den Monaten danach eskalierte die Lage. Friedliche Demonstrationen wurden von der Polizei verboten und gewaltsam zerschlagen. Den folgenden Versammlungen, die teilweise von Vandalismus begleitet waren, wurde mit unverhältnismäßigem und übermäßigem Einsatz von Tränengas begegnet. Die Brutalität der Polizei gegenüber den Protestierenden nahm zu. Niemand, nicht einmal schwangere Zivilistinnen, blieben verschont. Es wird vermutet, dass die Polizei, die die Demonstranten angreift und tötet, in Wirklichkeit das chinesische Festland-Militär ist. Die "Polizei" greift sogar Studenten an, die sich an mehreren Universitäten verbarrikadiert haben. Das ist Krieg.

Unterschätzte Grausamkeit

Vertreter anderer Nationen schrecken aufgrund ihrer wirtschaftlichen Interessen davor zurück, Chinas Vorgehen in Hongkong zu verurteilen. Also ist es an der Zivilgesellschaft, diesen Konflikt hervorzuheben. Hinzusehen. Nicht zuletzt, weil die Art, wie China in Hongkong vorgeht, einen Ausblick darauf dafür geben könnte, wie die Volksrepublik China jede andere Nation behandeln wird.

Nachdem ich zwei Monate auf dem chinesischen Festland und einige Zeit in Hongkong verbracht habe, bin ich der Meinung, dass wir die Grausamkeit des Regimes unterschätzen. Genau wie die Macht, die es auf der ganzen Welt erlangt hat. Und die sich weiter ausdehnt. 

Ich bleibe noch ein paar Tage hier. Und stehe mit Hongkong.