Das Georg Kolbe Museum in Berlin-Westend ist ein Zwischenort. Einerseits noch Großstadt: Im Hintergrund rauscht die geschäftige Heerstraße, nur ein paar 100 Meter weiter reckt sich Le Corbusiers 17-stöckige "Wohnmaschine" in den Himmel. Andererseits ist man hier fast im Grunewald. Das ehemalige Wohn- und Atelierhaus des Bildhauers Georg Kolbe (1877 bis 1947) fügt sich als Bauhaus-inspirierter Klinkerquader mit Fensterfront in einen sandigen Landschaftsgarten ein. Die hohen Kiefern sind genauso skulptural wie Kolbes Bildnisse von Tanzenden, Hockenden und Stehenden auf dem Rasen.
Das Museum ist auf den ersten Blick nicht unbedingt das, was man sich unter einem Hotspot der hippen zeitgenössischen Berliner Kunstwelt vorstellt. Es ist auch kein Blockbuster-Haus. Eher ein institutionelles Refugium, ein destination museum mit überwiegend gutbürgerlichem Publikum, in dem man sich durchaus ins Westberlin der Weimarer Republik zurückversetzt fühlen kann, in der Kolbes Naturstudio 1929 entstand.
Dass die Leiterin Kathleen Reinhardt nun als Kuratorin für den deutschen Pavillon in Venedig ausgewählt wurde, ist also keine Selbstverständlichkeit - steht die italienische Biennale in ihrer heutigen Ausprägung doch eher für den Kunstpuls der Gegenwart als für einen Rückgriff auf etablierte, tendenziell konservative Positionen der europäischen Moderne.
Ostdeutsche Kunst im globalen Kontext
Doch je näher man hinsieht, desto schlüssiger erscheint die Entscheidung des Auswahlgremiums um den Vizepräsidenten der Berliner Akademie der Künste, Anh-Linh Ngo, die Kuratorin Julia Grosse und die ehemalige Direktorin der Berlin Biennale, Gabriele Horn. Denn im Kolbe Museum waren seit Reinhardts Amtsantritt Ende 2022 durchgehend kluge Ausstellungen zu sehen, die das Werk und die Epoche des Namensgebers mit zeitgenössischen Positionen verbanden und dessen Erbe für das nächste Jahrtausend zugänglich und diskutierbar machte.
Kathleen Reinhardt wurde im thüringischen Sondershausen geboren - was für die Venedig-Biennale eine Premiere bedeutet. Zwar verantwortete mit Franciska Zólyom 2019 schon einmal die Leiterin einer sächsischen Institution (GfzK Leipzig) den deutschen Beitrag. Reinhardt ist aber die erste in der ehemaligen DDR geborene Kuratorin, der diese repräsentative Aufgabe zukommt. Der deutsche Pavillon war seit der Wiedervereinigung 1990 überwiegend ein westdeutscher Pavillon.
In ihrer Arbeit hat die promovierte Kunsthistorikerin deutlich gemacht, dass sie sich für die Sichtbarkeit ostdeutscher Positionen einsetzt, die in Museen jahrzehntelang keinen Platz hatten. Doch der Ansatz ist gleichzeitig ein internationaler, denn die Kunst schlägt in Reinhardts Ausstellungen stets Brücken. Wer sehen wollte, wie man beispielsweise das globale Thema Kampf gegen Rassismus präzise auf einen Ort zuschneidet und dann wieder öffnet, konnte dies 2021 in der Dresdner Kunsthalle im Lipsiusbau bei der Gruppenschau "1 Million Rosen für Angela Davis" bewundern – einer Ausstellung, die tragischerweise wegen der wiederholten Corona-Lockdowns nur wenige Besucherinnen vor Ort sehen durften.
Revolutionäre Romanzen
Das Konzept ging von der staatlich verordneten Verehrung der US-amerikanischen Black-Power-Aktivistin Davis in der DDR aus und thematisierte dann unter anderem ihre Bildwerdung und das Echo in der afroamerikanischen Kunst des 21. Jahrhunderts. Alles kulminierte in Arthur Jafas monumentaler Videocollage "Love Is The Message The Message Is Death". Und wer während der Hochzeit der "Black Lives Matter"-Bewegung teils zu Recht beklagte, dass der Diskurs in der deutschen Kulturwelt zu USA-fokussiert war, konnte in Dresden eine Schärfung des Kontextes betrachten. Auch das von Kathleen Reinhardt mitinitiierte Langzeitprojekt "Revolutionary Romances", das sich mit den Beziehungen der DDR zu den Ländern des "Globalen Südens" beschäftigte, fügte den dekolonialen Bemühungen der deutschen Kunstinstitutionen eine naheliegende, aber vorher wenig erforschte Facette hinzu.
Nach ihrem Wechsel von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden ins idyllische Berliner Westend hat Kathleen Reinhardt vor allem mit zeitgenössischen Einzelpositionen für Aufmerksamkeit gesorgt. Die noch vor der Eröffnung verstorbene Berliner Künstlerin und Aktivistin Lin May Saeed, die sich schon seit Jahrzehnten für Umweltschutz und Rechte für alle Lebewesen einsetzte, brachte sie mit den Tierbronzen der Kolbe-Zeitgenossin Renée Sintenis zusammen. Die Wandteppiche der israelischen Tänzerin und Choreografin Noa Eshkol wurden nach dem 7. Oktober 2023 – ungeplant – zu einem leisen Plädoyer für Verständigung in einer durch die Debatte um das Hamas-Massaker und den Krieg in Gaza zerrissenen Kunstwelt.
Reinhardts Handschrift ist nicht unbedingt die der großen politischen Geste; es wirkt eher, als vertraue sie darauf, dass die Kunst am besten für sich selbst sprechen kann. "Kunstschaffende fragen in ihren Werken danach, wo wir stehen, wie wir hierhergekommen sind und vor allem, wohin wir gehen und wie dies aussehen und sich anfühlen könnte", sagte die Kuratorin in einem Statement zu ihrer Berufung nach Venedig.
Eine urdeutsche Künstlerfigur mit allen historischen Problemen
In dem von den Nazis zur Kunstfestung ausgebauten deutschen Pavillon in den Giardini hat 1934 auch Georg Kolbe Skulpturen ausgestellt. Er selbst ist eine urdeutsche Künstlerfigur - mit allen daraus resultierenden historischen Problemen. Der Bildhauer erlebte vier politische Systeme vom Kaiserreich bis in die Westberliner Nachkriegszeit und legte stets einen gewissen Marktopportunismus an den Tag. Seine ambivalente Rolle in der NS-Zeit oder seinen Blick auf den Kolonialismus erforscht das Kolbe Museum weiter und will dies auch in seinem Programm sichtbar machen.
In einem politischen Klima, das zunehmend nach rechts driftet – in Italien regiert eine postfaschistische Partei, Deutschland hat gerade einen Kulturstaatsminister bekommen, den manche als konservativen Ideologen bezeichnen –, kann es nicht schaden, sich mit der Instrumentalisierung von Kunst auszukennen. Für sie sei es spannend, nach "Nebenwegen des Kanonischen" zu suchen, sagte Kathleen Reinhardt 2023 im Monopol-Interview. Das klingt nicht unbedingt nach einer politischen Kampfansage für den Pavillon. Aber nach einem Versprechen für die, die Lust haben, genau hinzuschauen.