Wer so klatschen kann, verdient Beifall: Robert Fleck erzählt die Geschichte der Biennale von Venedig – es ist ein Schlüssel- und ein Schlüssellochwerk

Die erste Biennale von Venedig startete mit einem handfesten Skandal. Schon am Eröffnungstag im Sommer 1895 bildeten sich lange Schlangen vor dem zentralen Ausstellungspalazzo, der mit zeitgenössischen Werken aus fast allen europäischen Ländern und den USA bestückt war. Objekt des Anstoßes war ein Gemälde des damals 35-jährigen Italieners Giacomo Grosso.
Die meisten der 224 327 Besucher der damaligen Biennale hatten schon vorab Zeitschriftenreproduktionen des Bildes gesehen und aufrührerische Besprechungen gelesen. „Il supremo convegno“ („Die höchste Zusammenkunft“) zeigte sechs Turiner Jugendliche bei einer nahezu naturgetreu dargestellten, satanis­tisch angehauchten Gruppensexorgie. Allesamt waren sie als die Sprösslinge reicher norditalienischer Bürgerfamilien erkennbar.
Wer meint, die Vereinigung von Kunst und Eventkultur sei eine beklagenswerte Erscheinung der vergangenen Jahrzehnte, wird in Robert Flecks gerade erschienener Geschichte der Biennale eines Besseren belehrt. Als der Intendant der Bundeskunsthalle Bonn 2007 den österreichischen Pavillon kuratierte, fiel ihm auf, dass so gut wie keine Forschungsarbeiten über die Geschichte der Biennale existierten. Diese Lücke hat er nun mit seinem Band, der auf Recherchen in Archiven, Bibliotheken und Künstlerateliers sowie auf einer Reihe von Gesprächen beruht, geschlossen.
Es ist ein Buch über eine sagenhafte Erfolgsstory. Die Biennale begann als verzweifelter Rettungsversuch für die marode Lagunenstadt. Anstifter war der venezianische Bürgermeister. Heute erfährt die Ausstellung eine mediale und touristische Resonanz, die an Großereignisse aus der Sportwelt erinnert. Bei Robert Fleck kann man erfahren, wie beleidigte belgische Künstler 1907 den ersten Nationalpavillon gründeten und wie diese Erfindung von verschiedenen Staaten für ihre Imagepflege genutzt wurde. Man liest, wie Gustav Klimt 1910 den White Cube erfand, indem er eine dunkle, verschnörkelte Halle in einen weiß gestrichenen Oberlichtsaal verwandelte; wie Picasso bei seinem ersten Ausstellungsversuch zensiert wurde und wie kolossal Klee, Ernst, Dix, Grosz und Kandinsky 1930 bei Kritik und Publikum durchfielen.
Mussolini instrumentalisierte die „Esposizione“ für seine Fantasien von der Renaissance des Römischen Imperiums. Der verhinderte Künstler Hitler besuchte sie ein Jahr nach seiner Machtergreifung und interessierte sich nur für den deutschen Pavillon. Den Rest fand er schlecht.Bei der ersten Nachkriegs-Biennale triumphierte Peggy Guggenheim mit der Ausstellung ihrer Sammlung und stellte damit die Weichen für die Kanonisierung der Moderne. Der 39-jährige Robert Rauschenberg nahm Venedig 1964 im Sturm, und die jungen New Yorker lösten die alternden Pariser Salonkünstler als Leitfiguren der Kunstwelt ab. Harald Szeemann erfand 1980 als Kurator der Zusatzausstellung „Aperto“ das, was wir heute als Postmoderne verstehen. Die Liste ließe sich unendlich fortführen.
Das Buch als gelungen zu bezeichnen wäre Understatement. Es ist so spannend zu lesen wie ein Krimi. Das liegt nicht nur an der Syntheseleistung Flecks, der hier durch das Prisma der Biennale eine veritable Kunstgeschichte erzählt. Das liegt auch an seinen lustvollen Schilderungen von Details wie dem Aufruhr um das Bild von Giacomo Grosso – dass er sein Augenmerk auf das richtet, was gemeinhin als Klatsch gilt und doch so tief in die sozioökonomischen Verhältnisse einer Zeit blicken lässt.
Das Grosso-Bild übrigens gewann damals mit großem Abstand den Publikumspreis der Venedig-Biennale. Im Anschluss sollte es auf Welttournee gehen. Doch noch vor seiner ersten Station fiel es einem nie ganz aufgeklärten Kaufhausbrand zum Opfer.
 

Robert Fleck: „Die Biennale von Venedig. Eine Geschichte des 20. Jahrhunderts“.

Philo Fine Arts, 230 Seiten, 14 Euro