Wie der Stilllebenmaler vor dem Früchtekorb: Meisterfotograf Thomas Struth in Zürich

Wie da die Leute vor dem Markttor von Milet stehen, so verteilt und geordnet, so stichwortbereit und kommandoergeben, so hingestellt wie Statisten im Film. Kann es sein, dass sie alle nur Besucher sind? Gruppen, Paare, Einzelne, die an der Kasse im Berliner Pergamonmuseum auf ihr Ticket warten und ihn gar nicht bemerken, den Mann mit der Kamera auf dem Stativ, der sie beim Staunen beobachtet?

Als Thomas Struth Mitte der 90er-Jahre Museumstouristen vor dem Pergamonaltar und dem Ischtar-Tor fotografi erte, sollten dem Publikum Wege und Stellungen eigentlich überlassen sein. Nur wusste das mit seiner Freiheit nichts Bildhaftes anzufangen. So musste der Regisseur inszenieren. Und nun sieht es auf den großen Fototafeln aus, als würde auf der Bühne des Museums ein unbekanntes Stück aufgeführt, das vom Stehen und vom Sehen handelt und, wer weiß, vom Staunen.
Gleich hinter dem Einlass in die große Struth-Ausstellung im Kunsthaus Zürich blickt man noch anderen lebensgroßen Staunern auf vier aneinandermontierten Bildern im Cinemascope-Format mitten ins Gesicht. Und da sich in der einen und anderen Brille Michelangelos „David“ spiegelt, kann die kurz- und langhosige Verehrung der Renaissance-Bildhauerei nur in Florenz stattgefunden haben. Grazil sieht Bewunderung ja nicht gerade aus. Gleich legt sich ein Schatten auf unsere Züge, wenn wir vor der Schönheit stehen. Unser Opfer an die Kunst? Und es ist ein bisschen gemein vom Fotokünstler Struth, seine Mitmenschen dabei zu verraten, und nicht gerade bescheiden anzumerken: „Manchmal wünschte ich mir, ich wäre das Gemälde, das in die Gesichter des Publikums schaut.“
Vor allem mit seinen Serien der „Museum Photographs“ und „Audiences“ ist der Düsseldorfer Thomas Struth, Jahrgang 1954, weltberühmt geworden. Kenner können auf Anhieb sagen, wo die Szenen des Staunens spielen. Natürlich, der angeschnittene Mann mit den Händen in den Hosentaschen macht Dürers „Selbstporträt“ in der Alten Pinakothek in München seine Aufwartung. Den Vermeer im mondbleichen Lichtkegel kennt man doch aus Londons National Gallery. Und das bunte Gedränge drängt sich nirgends so bunt wie in Raffaels „Stanzen“ in Rom.

Aber wie die junge Frau mit ihrem streng gescheitelten schwarzen Haar der streng gewandeten Spaziergängerin auf Seurats „Grande Jatte“ in Chicago zusieht und wie die Katastrophe auf Géricaults „Floß der Medusa“ der Reisegruppe im Louvre in die japanischen Körper fährt – das zeigt doch rasch, dass der Fotograf seine geduldige Arbeit nicht verrichtet hat, um eine museumserfahrene Klientel mit Albumblättern zu vergnügen.

Ob Struth im Pergamonmuseum sein Publikum wie Schachfi guren auf dem Museumsspielbrett verschiebt oder in anderen Häusern so lange wartet, bis die Frau mit dem strengen Haar eintritt und stehen bleibt, als hätte sie ihr zugewiesenes Feld auf dem Brett von selbst erkannt, immer sitzt er wie der Maler vor dem Modell – konzentriert auf das Motiv und dessen Bildwerdung.
Es gibt in diesem groß gewordenen fotografi schen Werk nicht das Einfangen, das Beutemachen. Die Technik, die Kamera zu bedienen, wie der Fischer das Netz auswirft und mit Spannung wartet, was hängen bleibt, ist dem Künstler Struth fern. Schon an der frühen Serie der Straßenbilder aus Düsseldorf fällt die gleichsam malerische Voreinstellung auf, eine Weise des frontalen, zentralperspektivischen Sehens, die werkbestimmend bleiben sollte und immer wieder daran erinnert, dass der Künstler als Maler in der Klasse von Gerhard Richter begonnen hatte, bevor er als Fotograf zu Bernd und Hilla Becher wechselte. Vielleicht hat keiner aus der fruchtbaren Becher-Klasse das Erbe der eigenwilligen Lehrer so konsequent erweitert. Nicht nur die statische Kamera, die agiert wie der Stilllebenmaler vor dem Früchtekorb, auch das dokumentierende Gewissen, die thematische Gliederung des Werks, seine Verpackung in umfangreiche Folgen verraten den Schüler, der rasch zum Meister wurde. Wohl hätte das Werk nicht so erfolgreich werden können ohne die technischen Möglichkeiten der fast grenzen- und verlustfreien Vergrößerung. Struths Bilder zielen machtvoll auf ikonische Überhöhung. Man streift durch die eindrückliche Züricher Schau vom Kabinett der monumentalen Urwaldansichten („New Pictures from Paradise“) in das der nicht minder monumentalen „Kultstätten“ und kann es kaum fassen, dass die Fotografi e mal klein und handlich begonnen hat. Vollends in der Abteilung der „Familienporträts“ scheint die Anmutung des technischen Mediums fast verschwunden. Und wer vor der „Richter Family“ oder „Ayvar Family“ oder „Felsenfeld Family“ an Goya und seine malerische Chronik vom spanischen Hof denkt, hat keine falsche Assoziation.

Erst jetzt, in der Übersicht, wird auch anschaulich, wie sehr dieses Werk von der barocken Idee des „Orbis pictus“, der Enzyklopädie der sichtbaren Welt, fasziniert scheint. Mit der stillen Emphase des Almanachs versammelt Thomas Struth seine Naturwunder und technischen Spektakel.

Erhaben, herausgehoben, sublim geht es immer zu. Das atmende Leben kommt nicht vor. Noch die „unbewussten Orte“ erscheinen im gebauten Schrecken der Favelas wie Illustrationen zu einer Reisegeschichte mit gütlichem Ausgang. Dieses Werk zeigt sich erstaunlich unerschütterlich im Glauben an einen noch immer herstellbaren Zusammenhalt der Dinge. Und die durchgängige Markierung des verlässlichen Blickpunkts ist viel mehr als nur fotografi - sche Handschrift.

In der Summe verschmelzen Sehen und Staunen zum famosen Zeugnis eines Künstlers, der es sich nicht abhandeln lässt, immer wieder das Ganze in den Blick zu nehmen und Bildstück um Bildstück die bildbare Welt zu bilden.