Landwehrkanal Berlin

Wie ein toter Schwan kurzzeitig zur Ikone wurde

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Foto: Michael Brake

Eingefrorener Schwan mit Blumenschmuck im Landwehrkanal Berlin

Jede Zeit hat ihre Bilder: In Berlin wurde ein toter Schwan im vereisten Kanal zum spontanen Monument. Die Vanitas-Szene passt in die Monokultur des Lockdowns, in der alle dasselbe posten – und zwangsläufig über Vergänglichkeit nachdenken

Die Berliner Wasserstraßen, die der deutschen Hauptstadt mehr Brücken bescheren als es sie in Venedig gibt, haben schon öfters Bemerkenswertes ans Licht gebracht. Im vergangenen Sommer bestückte der Künstler Aram Bartholl eine Ausstellung mit Elektrorollern und Leihfarrädern, die auf dem Grund der Spree gelegen hatten und ihre Auferstehung als verschlammte Fossilien der Sharing Economy feierten. Durch die anhaltende Kälte sind die Kanäle zu Eisbahnen geworden, auf denen (verbotenerweise) flaniert und Schlauchboot gerutscht wird – und Objekte von Fußbällen bis zu Möbelstücken und Fahrzeugen zu kristallin überfrorenen Stillleben mutieren.

Zu rasanter Berühmtheit brachte es am Wochenende ein toter Schwan, der pittoresk unter der Hobrechtbrücke im Landwehrkanal in Kreuzkölln vereiste. Die Fußspuren im Schnee deuten darauf hin, dass er vom Eis in ein Loch gefallen und dort im Wasser erfroren ist. Das gleichzeitig makabere und idyllische Bild schien bei vielen Berlinerinnen und Berlinern einen Nerv zu treffen und wurde in der ereignisarmen und spaziergangsreichen Lockdown-Zeit zur Social-Media-Sensation.

Es dauerte nicht lange, bis sich um den verendeten Vogel ein Blumenmeer gebildet und der Ort sich in ein Spontan-Monument und - trotz Kontakteinschränkungen – in einen der bestbesuchten Fotospots der Stadt verwandelte. Plötzlich hatte der oft so prosaische Kanal eine Ahnung des "Ophelia"-Gemäldes von Everett Millais. Auch Assoziationen an Damien Hirsts (ziemlich kitschige aber einst hochpopuläre) eingelegte Tiere drängten sich auf. Nur dass ein Schwan vielleicht noch ein wenig mehr Sympathiepotenzial mitbringt als ein Hai in Formaldehyd.

Auf gewisse Weise spiegelt das rege Posten des Schwan-Motivs perfekt die Lockdown-Monokultur wider, in der aus Mangel an Erlebnissen gefühlt alle dasselbe posten und es eigentlich egal ist, ob man eine Sache wirklich gesehen oder nur auf Instagram entdeckt hat. Das melancholische Memento-Mori-Motiv passt außerdem zum allgemeinen Pandemie-Gefühlschaos, in dem sich Verletzlichkeit und Vergänglichkeit unweigerlich ins Bewusstsein drängen.

Neben aufrichtigen Beileidsbekundungen wurde der tote Kanal-Schwan auch umgehend in die Popkultur eingegliedert und tauchte auf zahlreichen Memes bei Southpark oder in der Agenda von Bernie Sanders auf. Auch Björks legendäres Schwanenkleid von der Oscar-Verleihung 2001 wurde in der Berliner Kälte heraufbeschworen. Inzwischen wurde das tote Tier aus dem Eis geborgen. Nur ein Loch und die Blumen erinnern an diesen speziellen Bild-Moment aus dem Winter 2021. In Berlin soll es diese Woche tauen.