Wie Teenagerliebe in einer Stadt voll blöder Beamter: In Brüssel beginnt eine sechsteilige Retrospektive von Felix Gonzalez-Torres

Eher ein Fall für Wirtschaftswissenschaftler, Mathematiker oder Theologen: Es kann einen schon irrsinnig machen, dieses „endless“ in den Materialangaben zu den Arbeiten. Endlose Bonbons, endlose Bögen Papier. Die Besucher können sich nehmen, so viel sie wollen – die Institution häuft neue Bonbons auf, stapelt neues Papier. Der frühe Tod des Künstlers, diese tragische Endgültigkeit, verwandelt das Werk in ein Gesamtwerk und verleiht ihm so zusätzlich paradoxe Unschärfe. Nun ist abgeschlossen, was doch endless bleiben sollte.

In Brüssel, in der jungen Kunsthalle Wiels, beginnt ein Ausstellungszyklus, der dieses Dilemma unerschrocken angeht: Die Retrospektive des 1996 an den Folgen von Aids gestorbenen Felix Gonzalez- Torres besteht aus sechs Teilen, und wer sie nicht alle gesehen hat, weiß noch nicht viel über die maximal offen angelegte Kunst des Exilkubaners. Denn bei jeder Station wird sie anders aussehen, anders dastehen. Nach der Aufmerksamkeit, die der Künstler in Europa nach der großen Retrospektive 2006 im Hamburger Bahnhof Berlin und seinem posthumen Auftritt im US-Pavillon bei der Venedig-Biennale 2007 erhalten hat, wirkt dieses Vorhaben wie ein Anlauf gegen jede weitere Musealisierung. Wie die Leichtigkeit und Flüchtigkeit erhalten, die zu Gonzalez-Torres gehört? Die Kuratorin Elena Filipovic hat darauf eine Antwort gefunden.

Die in Berlin lebende Amerikanerin betreut das Gesamtprojekt „Felix Gonzalez- Torres. Specific Objects without Specific Form“: Sie hat die Installationen, Fotografien, ein Video mit Satzfetzen, die ein Selbstporträt ergeben sollen, und frühe, eher unbekannte Malerei zusammengetragen, und dann natürlich auch ein paar der berühmten Papierstapel und Bonbonhaufen. Die Arbeiten sind auf drei Stockwerken sowie im Treppenhaus und Foyer verteilt. Zudem hat die Kuratorin, deren Vorliebe für prozessuale Ausstellungskon-zepte schon 2008 bei der von ihr mitverantworteten Berlin-Biennale auffiel, Künstler eingeladen, die Retrospektive jeweils neu zu arrangieren. So wird ab Anfang März Danh Vo noch einmal die Schau umsortieren. Er will, so viel ist vorab schon zu hören, die meisten Exponate wieder einpacken und dem Brüsseler Publikum einen Felix Gonzalez-Torres präsentieren, der noch nüchterner ist als der, der jetzt in der ohnehin sparsam eingerichteten Ausstellung zu sehen ist. Im Sommer wird die Ausstellung in der Fondation Beyeler bei Basel gezeigt, Carol Bove greift nach Filipovics Erstfassung noch einmal neu kuratierend ein. Anfang nächsten Jahres zeigt das Frankfurter Museum für Moderne Kunst die beiden letzten Variationen. Dort richtet Tino Sehgal den zweiten Teil aus.

Das Konzept überzeugt: Felix Gonzalez- Torres selbst hat eine seiner Ausstellungen während der Laufzeit neu installiert. Vor allem aber hat er die Autorität, die ihm als Künstler zustand, an die ausstellenden Institutionen und an seine Sammler abgegeben, warf so in seinen Arbeiten immer wieder die Frage nach Autorschaft auf. Das macht heute auch die Nachlassverwaltung einfacher und vermeidet unnötiges Fetischgehabe.

Mit der Arbeit „,Untitled‘ (For Stockholm)“ von 1992, die nun in Brüssel zu sehen ist, überließ er es der damals ausstellenden Konsthall, die zwölf meterlangen Glühbirnenketten nach eigenem Belieben zu arrangieren. Elena Filipovic hat sie in majestätischer Symmetrie in den dritten Stock gehängt; ihre Anordnung im Zickzack zwischen Boden und Decke zeichnetdie Struktur einer prächtigen Gebäudefassade in den Raum. Überhaupt zieht die Ausstellung viele Reize aus der funktionellen, industriellen Architektur der ehemaligen Brauerei Wiels und dem Widerspruch, in dem diese zu der minimalistischen Zartheit und der angedeuteten Intimität der Arbeiten steht. Die Vorhänge der Installation „,Untitled‘ (Loverboy)“ von 1989 etwa: Die leichten, himmelblauen Schals schaffen ein Licht, in dem die anderen Exponate sich verändern, und der feine Stoff wirkt in dieser Halle so fremd und wertvoll wie die unschuldigste Teenagerliebe in einer Stadt voll blöder Beamter.

Wie hier die Schönheit des Materials mit der Schönheit des Denkens zusammenfällt! Gonzalez-Torres hat es verstanden, die Leidenschaften und die Gewalt, die seine Arbeiten ansprechen, sowie seinen eigenen politischen Gestaltungswillen runterzukühlen zu unscheinbaren Gesten, zur emotionslosen Darstellung von Emotion. Etwa wenn er in der selten ausgestellten Arbeit „,Untitled‘ (Throat)“ von 1991 das Taschentuch seines verstorbenen Vaters auf den Boden legt, darauf Halsbonbons, die der Betrachter sich nehmen kann. Im Werk, für das er kaum zehn Jahre Zeit hatte, tritt der Künstler seinen Gefühlen und eigenem Erleben wie bei einer Inventur gegenüber. Aus großer Distanz berichtet dieses OEuvre von biografischen Ereignissen, von der frühen Trennung von den Eltern, von Homosexualität und der Aidskrise, auf die die Politik keine angemessene Antwort fand, vom Verlust des Geliebten und von Krankheit. Diese Selbstdistanz unterscheidet ihn auch von Frida Kahlo, deren Retrospektive zufällig zeitgleich im Museum Bozar läuft. Man tut der mexikanischen Malerin, die heute den Rang einer Postkartenheiligen besitzt, und dem kubanischstämmigen Künstler natürlich gleichermaßen unrecht, stellt man sie allzu dicht nebeneinander. In Brüssel lassen sich so zwei beeindruckende Wege verfolgen, wie die Unzulänglichkeiten und das Glück des menschlichen Körpers, wie Schmerz, Liebe und das Bewusstsein von Sterblichkeit in die Kunst gelangen.

Wiels, Brüssel, bis 25. April. Fondation Beyeler, Riehen, 21. Mai bis 29. August. Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main, 28. Januar bis 25. April 2011. Am Ende der Ausstellungsreihe erscheint ein Katalog