Dass die Kohlebilder laufen lernten, verdanken sie vor allem dem Südafrikaner William Kentridge. Dieser brachte nämlich den Animationsfilm in die Kunstwelt ein. Sein Werk "Felix in Exile", 1994 fertiggestellt und 1997 auf der Documenta 10 vorgeführt, machte den Künstler international bekannt. Anhand zweier fiktiver Figuren, Felix Teitlebaum und Soho Eckstein, behandelte Kentridge die Traumata des Holocaust und die Erinnerungen an die Apartheid, die zur Entstehungszeit des Films gerade zuende ging.
William Kentridge, 1955 in Johannesburg geboren, stammt aus einer litauisch-jüdischen Familie, seine Eltern vertraten als Rechtsanwälte Schwarze in den Apartheid-Prozessen. Als das rassistische Regime Anfang der 90er fiel, war Kentridge Ende 40. Sein Vater hatte Nelson Mandela vertreten, bevor er der berühmteste politische Häftling Südafrikas wurde und später der erste demokratisch gewählte Präsident des Landes.
Kentridge studierte zunächst Politik und Afrikanistik an der Witwatersrand-Universität und später Kunst an der Art Foundation in Johannesburg. In den 1980er-Jahren besuchte er die L‘École Internationale de Théâtre Jacques Lecoq in Paris und arbeitete anschließend als Schauspieler und Regisseur. Nachdem er sich einige Jahre in den Medien der Grafik und Zeichnung versucht hatte, begann Kentridge, Animationsfilme zu produzieren.
Komplexe Schichtung von Bedeutung
Bewegung erzeugt er dabei, indem er ein und dasselbe Blatt wieder und wieder fotografiert (Stop-Motion-Animation) und mit jedem Schritt die Zeichnung durch Löschungen und Überarbeitungen verändert. In seinen Werken reflektiert er die Geschichte und die sozialen Zustände Südafrikas.
In jüngerer Zeit beschäftigt er sich auch mit den Missständen, die durch Industrialisierung und politische Unterdrückung weltweit hervorgerufen wurden. Während des Arbeitsprozesses überlagert Kentridge verschiedene Medien, wie Buch, Zeichnung, Collage, Tanz, Musik, Theater, Schattenspiel, Film, Computeranimation und Projektion. Mit jedem Medienwechsel werden die Bilder transformiert. So entsteht eine komplexe Schichtung von Medien und Bedeutungen. Seine Arbeiten werden in den bedeutendsten Museen der Welt gesammelt und ausgestellt. Nicht nur an der Documenta, auch an der Venedig-Biennale hat er mehrfach teilgenommen.
Zeichnungen bilden bis heute die Grundlage seines vielseitigen Schaffens, das Druckgrafik, Skulpturen und Filme ebenso umfasst wie Inszenierungen für die Opernbühne und die Konzeption eigener Bühnenstücke. Kentridge hat Kulissen für Mozarts "Zauberflöte" und Alban Bergs "Wozzeck" geschaffen, außerdem selbst Opern verfasst – zuletzt die auf dem Festival von Aix-en-Provence 2024 uraufgeführte Kammeroper "The Great Yes, the Great No". Einmal mehr widmet sich Kentridge darin dem Thema Kolonialismus – in Form einer Allegorie, in der Vertreter des Antikolonialismus wie Aimé Césaire, Frantz Fanon und die Nardal-Schwestern auftreten.
Irgendwo auf der Welt läuft immer eine Kentridge-Ausstellung
Seine erstaunliche Produktivität führt dazu, dass irgendwo auf der Welt immer eine Kentridge-Ausstellung läuft, vom 1. Mai bis 1. August etwa in der New Yorker Galerie Hauser & Wirth, wo seine neunteilige Filmserie "Self-Portrait as a Coffee-Pot" gezeigt wird. Ab September widmen ihm das Museum Folkwang und die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden ein umfangreiches Gemeinschaftsprojekt unter dem Titel "Listen to the Echo".
Die Folkwang-Ausstellung wird die künstlerische Entwicklung Kentridges von den späten 1970er-Jahren bis heute nachvollziehbar machen. Neben Zeichnungen und Filmen aus der berühmten "Drawings for Projection"-Serie sollen auch Druckgrafiken, Skulpturen, Tapisserien sowie Mehrkanal-Filminstallationen zu sehen sein. Ein Schwerpunkt der Schau liegt auf Arbeiten, in denen sich Kentridge mit der wechselhaften Geschichte seines Heimatlands Südafrika, aber auch mit Kolonialismus, gesellschaftlicher Macht und individueller Verantwortung auseinandersetzt.
Am Montag ist der Künstler 70 geworden. Er lebt nach wie vor in seiner Geburtsstadt Johannesburg. Mit seiner Frau und seinen drei Kindern wohnt er weiterhin in jenem Haus im Stadtteil Houghton, in dem er auch aufgewachsen ist. "Die Stadt hat einen Wert für mich als Künstler", hat Kentridge vor Kurzem gesagt. "Sie hat die Art und Weise, wie ich zeichne, geprägt. Johannesburg ist künstlich konstruiert, die Stadt zeichnet sich selbst ... wie die Zeichnung eines Kindes von einer Minenhalde ... und man kann die Zeichnung ausradieren, das Land wird immer wieder neu gezeichnet. Wenn man darüber nachdenkt, ist der eigentliche Grund für die Existenz der Stadt - das Gold - unsichtbar, es liegt drei Meilen unter der Erde." Happy Birthday, William Kentridge!