Neustart in Worpswede

Das Künstlerhaus als soziale Plastik

Die berühmten Künstlerhäuser in Worpswede haben durch eine neue Doppelspitze ein Update bekommen. Statt einsam vor sich hin arbeitende Stipendiaten wollen sie Austausch und kollektive Kunstproduktion fördern

Die Zeiten, in denen Stipendienstätte nicht mehr leisten, als Künstlern die Möglichkeit zu geben, ihre "einsamen künstlerischen Monologe" (Nicolas Bourriaud) in einer mehr oder weniger komfortablen, aber zeitlich befristeten Situation voranzutreiben, sind in Worpswede endgültig vorbei. Die dortigen Künstlerhäuser nämlich verstehen sich jetzt als ein Ort der Kunstproduktion, an dem nicht zuletzt auch in kollektiven und partizipativen Prozessen gearbeitet wird. Dabei wird jetzt ein besonderes Augenmerk auf ökologische Nachhaltigkeit und sozial-politische Verantwortung gelegt.

Dieser Erneuerungsprozess beginnt bereits mit der Leitung der Künstlerhäuser Worpswede: Erstmals wird die Stipendienstätte, übrigens eine der ältesten Europas, von einem Duo geleitet, dem Ehepaar Philine und Bhima Griem. Sie ist eine studierte Philosophin, er hat vor zwei Jahren seinen Meisterschüler an der Kunsthochschule Braunschweig gemacht. Beide ergänzen sich also offenbar gut mit ihren Kernkompetenzen. Dieses "Mini-Kollektiv" hat seit April 2020 das Haus in Zusammenarbeit mit den Stipendiatinnen und Stipendiaten konsequent umgekrempelt: Vor allem dadurch, dass sie es aus einer ganzheitlichen Perspektive heraus als "soziale Plastik" begreifen.

Auf den ersten Blick sichtbar wird diese Umorientierung bereits auf der großflächigen Grünanlage hinter den Künstlerhäusern, die jetzt nicht mehr nur zum Grillen und Sonnenbaden genutzt wird. Vielmehr wird dort nun Gemüse angebaut, und auch ein gemeinschaftlicher Komposthaufen ist vorhanden. Dazwischen liegt aufgehäuftes Second-Hand-Material, das auf seine künstlerische Weiterverarbeitung wartet.

Auswahl der Stipendiaten demokratisieren

Zudem wurde eine ökologische Sauna installiert, gemeinschaftlich errichtet von den Stipendiaten Zefak, einer Künstlergruppe aus Bremen, dem Berliner Kollektiv #Spätispäti und Bhima Griem. Damit nicht genug: Diesen Sommer diente diese Grünfläche als Schauplatz für ein kreatives Sommercamp, das die Künstlerhäuser für Bremer Kinder aus sozial schwachen Familien organisiert haben. Soziale Projekte gab es übrigens auch während der Pandemie: Als die Kunsthochschulen geschlossen waren, wurden kostenlos Atelierplätze angeboten. Weitere solcher Projekte sind geplant, etwa die Vergabe von Stipendien an Künstlerinnen und Künstler aus der Ukraine.

Auch ein zentraler Modus Operandi einer jeden Stipendienstätte, die Vergabe der Förderung, wollen Philine und Bhima Griem reformieren. Darum wird im ersten Halbjahr 2023 ein neues Format erprobt. Dieses sieht vor, dass sogenannte "Intervall-Stipendien" vergeben werden, die in die Phasen "Warm-Up", "Move" und "Follow-Up" eingeteilt sind. Die wiederkehrende Anwesenheit der Ausgewählten soll die Bindung an die Künstlerhäuser und eine reflektierte Prozesshaftigkeit des Arbeitens dort garantieren.

Zudem soll die Auswahl der Stipendiaten demokratisiert werden, unter anderem durch ein Mitspracherecht der Bewerberinnen und Bewerber und ein integriertes Losverfahren. Ziel ist es, endlich zu verhindern, dass (wie immer noch allzu oft) stets die "üblichen Verdächtigen" ein Stipendium bekommen. 

Vernetzung mit der Szene vor Ort

Bereits gelungen ist in dem altehrwürdigen Künstlerdorf Worpswede bereits die angestrebte "horizontale Öffnung", die wie die kollektive Performativität auch ein wichtiger Aspekt der Documenta 15 war. Auf dem Marktplatz des Dorfes, in dem Anfang des 20. Jahrhunderts schon Paula Modersohn-Becker lebte und arbeitete, bespielen die Künstlerhäuser jetzt ein ehemaliges Toilettenhäuschen als Schaufenstergalerie mit Arbeiten junger Künstlerinnen und Künstler aus der Region.

Außerdem wird seit etwa einem Jahr in Zusammenarbeit mit der ortsansässigen Galerie KW/Randlage ein leerstehendes Gebäude als Atelierhaus für junge Worpsweder und Bremer Künstler genutzt. So gelingt die Vernetzung mit der Szene vor Ort, die Stipendiatenstätte wird zum alltäglichen Bestandteil des sozialen Lebens.

Zuletzt wird dieser Erneuerungsprozess der Künstlerhäuser mit einem über mehrere Jahre angelegten, von Philine Griem konzipierten Forschungsprozess begleitet. Unter dem Arbeitstitel "Stipendienstätte der Zukunft" werden in Kooperation mit Stipendiaten und eingeladenen Wissenschaftlerinnen unterschiedlicher Disziplinen die Möglichkeiten von zeitgemäßer und effektiver Kunstförderung ausgelotet. Theorie und Praxis gehen da also klugerweise Hand in Hand.