Vielleicht sollte ich da anfangen, wo ich bei meiner Rezension des letzten Buches von Christian Kracht aufgehört habe. Gemäß meinem von Tocotronic geborgenen Motto "Was du auch machst, mach es nicht selbst" versuchte ich bei meiner Besprechung von "Eurotrash" den bildenden Künstler und Musiker David Lieske einen Großteil der eigentlichen Arbeit machen zu lassen. Das Ergebnis war ein ziemlich unterhaltsames, referenzreiches und von biografischen Details überschäumendes Gespräch: Nochmals vielen Dank hierfür, lieber David!
Dementsprechend freute ich mich, als ich die aktuellen Pressefotos des Verlags zum neuen Buch "Air" von Christian Kracht sah, die ausgerechnet von David Lieske aufgenommen wurden. So herrlich im Dunkeln haben wir Kracht noch nie gesehen: Schön gegen das Licht fotografiert, einmal stehend, den Kopf zum Profil gedreht und ein anderes Mal in einem bequemen Sessel sitzend, den Kopf auf die rechte Hand gestützt und in der linken lässig seine Brille haltend.
Auch wenn das Gesicht jeweils komplett verschattet ist, bleibt genug sichtbar von der für Kracht typischen Kleidung (die obligatorische Barbour-Jacke, der weich fallende Tweed-Pullover und die weite Flanellhose). Ich bilde mir ein, trotz der Finsternis die Augen des Autors und seinen jeweiligen Gesichtsausdruck wahrzunehmen. Aber was hat es eigentlich mit den entblößten Fußknöcheln auf sich, und was ist das für ein Fell am unteren Bildrand? Nicht nur die beiden hier erwähnten Aufnahmen hat Lieske anlässlich des neuen Buches gemacht. Auch zwei weitere Porträts, diesmal outdoor im grellen Sonnenlicht zeigen Kracht gestiefelt in der für ihn typischen gewachsten Jagd- und Freizeitjacke.
Und schon gleich nach der ersten Seite von "Air" taucht auch schon wieder David Lieske auf, beziehungsweise das von ihm in unserem Gespräch erwähnte Armeefahrrad. Auf dessen Gepäckträger wurde der junge Lieske angeblich beim ersten engeren Kennenlernen des Autors von diesem durch den Englischen Garten gefahren, auf dem Weg zum Eisbach, in dem die beiden damals anscheinend floateten, nachdem Kracht Lieske vom aktuellen Stand der Einhornforschung berichtet hatte.
Während in der Erzählung von Lieske das Fahrrad im Zusammenhang mit Eskapismus und einer rauschhaften nächtlichen Fahrt durch den für schwules Cruising bekannten Englischen Garten steht, ist es in "Air" ein durch und durch veraltetes und unpraktisches Gefährt, das nur noch für sein Aussehen und den damit verbundenen Stil steht. Es gehört Paul, einem der Protagonisten von "Air", der "schwitzte und fluchte", als er "das grüne Schweizer Militärvelo" mit dem "unkomfortablen Ledersattel" über das Kopfsteinpflaster von Stromness fährt, einem Ort auf Mainland, der Hauptinsel des Orkney Archipels. Er ärgert sich, nicht ein Mountainbike gekauft zu haben, aber das kam ähnlich wie ein Fahrradhelm nicht infrage – so weit konnte der stilbewusste Paul sich ästhetisch nicht kompromittieren.
Aber zurück zum Anfang. Nicht nur das komplett verschattete Porträt auf der hinteren Innenseite des Einbands schürte meine Erwartung. Auch der kurze Text auf der Rückseite ließ mich hoffen. Ein "Schweizer Dekorateur und Inneneinrichter" namens Paul sollte es "an die Grenzen seiner Welt und weit darüber hinaus" führen. Um es mit den Worten von Hildegard Knef zu sagen: Ich sah mich schon in Juwelen wühlen. Ein Dekorateur! Vor meinem geistigen Auge erschienen die campen Schaufensterdekorationen von Andy Warhol für Bonwit Teller vom Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre ebenso wie die des jungen Liebespaars Jasper Johns und Robert Rauschenberg. Ähnlich wie Andy lebten sie zur selben Zeit in den Auslagen des legendären New Yorker Kaufhauses ihre gut bezahlten burlesken Fantasien aus – jedoch verschämt unter dem Pseudonym Matson Jones, das sie sich von den Mädchennamen ihrer Mütter geliehen hatten.
Wer übrigens mehr über die Kunst und das Liebesleben von Jones und Rauschenberg erfahren will, dem empfehle ich "Fünf Freunde. John Cage, Merce Cunningham, Jasper Jones, Robert Rauschenberg, Cy Twombly" aktuell noch im Museum Brandhorst und ab dem 3. Oktober im Museum Ludwig. Und als Einstimmung den gelungenen Text von Oliver Koerner von Gustorf.
Von Queerness keine Spur
So stimuliert stürzte ich mich also Hals über Kopf in die Lektüre. Aber je weiter ich im Text von "Air" vorankam, desto deutlicher wurde es: von Queerness keine Spur. Nur einmal hielt ich kurz inne. Nämlich, als der Herzog von Cumberland "nach mehreren endlosen Sekunden des Schweigens" auf Paul zuging, ihn "kräftig umarmt(e) und ihm mit dem Handrücken die Wange" streichelte und Paul dabei den Siegelring spürte, den der Herzog am kleinen Finger trug. Allerdings wurde Paul noch im selben Satz vom Herzog "unter Gelächter auf den Rücken geschlagen" und er bescheinigt ihm, dass er doch ein "massiver Pfundskerl" sei, "wirklich erstklassig …".
Als ich in einem Gespräch mit meinem guten Freund, dem Literaturwissenschaftler Niels Werber, der nicht nur ein ausgewiesener Kracht-Kenner ist, sondern darüber hinaus Experte für "Codierung von Intimität im Roman", diese Stelle erwähnte und er offensichtlich meine Enttäuschung heraushörte, tröstete er mich auf professorale Weise. Im Zuge seiner eigenen Besprechung von "Air" habe er den Herzog von Cumberland einmal ausgecheckt, und siehe da, er sei ohne Nachfahren. Ich bin sicher, dabei zog Niels die rechte Augenbraue hoch und schaute ähnlich andeutungsvoll wie die scharfsinnige Miss Marple, wenn sie einer heißen Sache auf der Spur ist. Genau weiß ich es jedoch nicht, denn wir telefonierten.
Es gibt noch eine weitere Stelle in "Air", die fast zärtlich das erste Aufeinandertreffen von Paul und Cohen, einem weiteren Protagonisten des Buches und Herausgeber der Stil-Zeitschrift "Kūki" beschreibt: "Cohen drückte mit der Spitze des Zeigefingers den Rahmen der Brille den Nasenrücken hoch. Er strahlte große Einfühlsamkeit aus, und Paul bemerkte, während Cohen sich hinsetzte und dabei mit beiden Händen seine Hose links und rechts an den Oberschenkeln etwas hochzog, daß er angenehm roch … Paul sah Cohen an. Es war kaum zu glauben. Cohen sah exakt so aus wie eine erwachsene Version des Jungen aus Spielbergs Film. Er hatte einen hübschen Mund und dunkle Knopfaugen und dunkelbraune, wellige Haare, die über Ohren und Stirn gingen. Er trug eine Hose aus weißer melierter Wolle mit weißen Paspeln an den Seiten und ein zu weit offenes, schneeweißes Hemd. Spärliche grauweiße Brusthaare waren zu sehen." Doch ähnlich wie der Herzog abrupt jede Romantik durch sein burschikoses Rückenklopfen verscheucht, so versteht es auch Cohen, jedwede Schwärmerei von Paul im Keim zu ersticken, indem er ihm die eigentliche Lächerlichkeit der von Paul so geliebten Zeitschrift vorhält.
Jetzt kommt eine Eloge!
Wer jedoch denkt, dass all dies meine Begeisterung für "Air" auch nur im Geringsten einschränken würde, irrt gewaltig. Achtung, jetzt kommt eine Eloge! Kracht gelingt es mit seinem aktuellen Buch, einen wahren Lesesog zu erzeugen. Einmal in der Hand, fällt es schwer, sich seiner Anziehung zu entziehen. Das liegt unter anderem am Aufbau und der Abfolge seiner Kapitel. Was scheinbar harmlos mit der Geschichte von Paul anfängt, seiner Einladung, das "perfekte Weiß" für eine "immense dunkle Halle" des Lifestyle-Magazins "Kūki" zu finden, entpuppt sich zunehmend als ein Wirbel von Ereignissen, in denen verschiedene Welten und Zeiten kollidieren.
Schon mit dem Beginn des zweiten Kapitels und dem Auftauchen von Idlr, einem Mädchen, das "fast noch ein Kind" ist, und durch seine konzentrierte und besonnene Art dem Buch trotz allem Ereignisreichtum eine fesselnde Ruhe verleiht, folgt ein Höhepunkt dem anderen. Es ist eine merkwürdig unaufgeregte, dafür aber um so aufregendere Geschichte, die sich zwischen Idlr, Paul, Cohen und einem namenlosen Hund entfaltet. Während des Lesens musste ich immer wieder an einen Instagrampost von Kracht denken, auf dem ein Mädchen mit einem Hund neben sich sitzend in das weite Grün einer Landschaft schaut.
Im Gegensatz zu diesem Idyll wird die Geschichte in "Air" gesäumt von grobschlächtigen Soldaten, einem unbarmherzigen Herzog mit Hautproblemen (in gleich zwei Ausführungen), einer Frau namens Ut und einem Eismenschen ohne Namen. Es gibt Kampfszenen, die in ihrer Direktheit und Brutalität Hollywood-Qualität besitzen. Zwischen Geschichtsepos, Martial Arts und Fantasieroman changierend, entfaltet sich eine Erzählung, deren geisteswissenschaftlichen und philosophischen Exkurse so herrlich bildhaft sind, dass sich ganze Panoramen vor dem inneren Auge entfalten. Überhaupt: Dieses Buch muss unbedingt verfilmt werden. Zurzeit arbeitet Frauke Finsterwalde zwar noch an "Eurotrash", einem Film (mit Barbara Sukowa in einer der Hauptrollen, meiner Fassbinder-Lieblingsschauspielerin), der 2026 in die Kinos kommen soll, aber danach, liebe Frauke, bitte, bitte unbedingt sofort "Air" verfilmen.
In seiner Struktur ist der Roman auf den ersten Blick wie eine Doppelhelix aufgebaut, zwei scheinbar parallel verlaufende Erzählstränge, deren einzelne Kapitel jeweils voneinander unterbrochen werden und oft mit Cliffhangern arbeiten. So bleiben Handlungsfäden und deren dramatischen Wendungen am jeweiligen Ende ungeklärt und werden erst im übernächsten Abschnitt fortgesetzt. Erst nach einiger Zeit realisiert man, dass "Air" aber eigentlich eher mit einem Möbiusband vergleichbar ist und die scheinbar so klare Orientierung an Halt verliert und es schwerfällt, zwischen den Zeiten und Orten, zwischen innen und außen zu unterscheiden.
Besonders unterhaltsam sind in diesem Zusammenhang Wiederholungen, wie die identische Beschreibung eines Teppichs aus Schafswolle, der gleich in der ersten Sequenz im Haus von Paul auftaucht, "auf dem nur teilweise glänzend polierten Betonfußboden. Auf diesem lag, ebenfalls rechtwinklig zum Tisch ausgerichtet, ein schmutzig-weißer Schafwollteppich, der nicht gleichmäßig gebleicht, sondern an mehreren Stellen graubraun belassen worden war." 143 Seiten später, wir befinden uns inzwischen in einer in Felsen hinein gehauenen Steinstadt, das (fast) gleiche Bild: "Der Boden war überall mit grünen Algenfäden übersät, und in der Mitte lag ein sehr langer, uralter Teppich aus Schafwolle, der nicht gleichmäßig gebleicht, sondern an mehreren Stellen graubraun belassen worden war." Ich bin sicher, es ließen sich noch eine Reihe von weiteren für die Literaturwissenschaft sehr interessante Beobachtungen anstellen, und umso mehr empfehle ich die Besprechung von Niels Werber für "Soziopolis".
Eine Geschichte über Freundschaft und Liebe
Aus meiner Perspektive ist "Air" eine Geschichte über Freundschaft und Liebe; und darüber, dass beides oft schwer zu unterscheiden ist. Die innige Beziehung von Paul und Idlr umspielt diese Thematik ebenso wie die während der Geschichte sich vertiefende Verbindung beider zu dem ihnen zugelaufenen Hund. Ähnlich, wenngleich anders, bestimmt ein imaginiertes unbestimmtes Sehnen den humorvoll beschriebenen gescheiterten Versuch Cohens, Ut als Geliebte zu gewinnen.
In diesem Zusammenhang ist auch das Verhältnis von Paul und Cohen komplexer, als vielleicht angenommen. Zumindest könnte folgende Stelle darauf hindeuten: "Dann träumte er (Cohen) von einem Hund, der ihm ergeben war, der mit der Zunge seine Hand benetzte und leise wimmerte. Und er träumte von Paul, dessen Kopf unter einer weißen Kapuze verborgen war, und Paul war sein Freund, und er war verschwunden, und er mußte ihn suchen gehen." Diese Szene wiederum ist wie eine Referenz auf ein Bild, das Paul anstelle einer Geldzahlung vom erwähnten Herzog von Cumberland erhielt. Das Bild wird von Kracht schon auf der zweiten Seite ausführlich beschrieben, da es bei Paul in dessen Zimmer, im kleinen Haus in der Hafenstadt Stromness, über dem erwähnten Fahrrad hing. Schon ein paar Klicks im Internet geben mehr Auskunft über das Bild und führen sogar eine Abbildung zu Tage: James Archer (1823-1904), "Merlin and Lancelot, an Incident from 'Le Morte d'Arthur'", 1871.
Offenbar wurde es beim British & Continental Paintings Sale am 21. März 2007 in London bei Sotheby’s mit einer Schätzung zwischen 3.000 und 5.000 britischen Pfund angeboten. Auf dem Historienschinken von James Archer von 1871 sehen wir, wie Merlin in einer weißen Kutte mit Kapuze bekleidet das schwarze Pferd mit dem traurig erschöpften Ritter Lancelot nach der erfolglosen Suche des Grals zurück nach Camelot führt. Nicht nur der weißen Kutte begegnen wir (unter anderem im Traum von Cohen und als fun fact bei Instagram auf dem Kopf von Kracht), auch das schwarze Pferd taucht gegen Ende von "Air" wieder auf, aber das lesen Sie alles am besten selbst. Ich verspreche Ihnen, Sie werden es nicht bereuen.