Julian Charrière in Lugano

Zwischen Schönheit und Katastrophe

In der Kunst von Julian Charrière ist keine Mühe zu groß, keine Reise zu weit. Im schweizerischen Lugano zeigt er in einem neuen Film die düstere Erhabenheit von Eisbergen - und die Polarregionen als sterbenden Patienten 

Die Sonne blendet, der See glitzert bläulich, die Hänge der hohen Berge am Ufer strahlen in den schönsten Farben, die der Herbst zu bieten hat. Das Museum Masi liegt landschaftlich spektakulär, und der Kontrast von außen nach innen könnte nicht größer sein, wenn man, den Luganersee im Rücken, das Untergeschoss des Museums und damit Julian Charrières Ausstellung betritt.

Vorbei an einer monströsen Kanone (jedenfalls lässt sich das anhand der Form vermuten, denn sie ist gut verpackt und in Decken gehüllt), gelangt man in den großen und komplett dunklen Hauptraum und ist sofort in einer anderen Welt. Charrière hat den Saal in ein Diorama verwandelt, in das man als Besucher vollständig eintaucht. Unter den Füßen knirscht es sandig, im Raum verteilt stehen seltsam durchlöcherte Findlinge, beleuchtet von einzelnen Spots. Viel ist nicht mehr von ihnen übrig, riesige Werkzeuge haben nur noch die Zwischenräume der großen Bohrlöcher stehenlassen und die zylinderförmigen Steinstäbe liegen unter den Brocken platziert, als könnte man sie jeden Moment ins Rollen bringen.

Der Film als Flügelaltar

Das zentrale Werk der Ausstellung ist allerdings der monumentale neue Film "Towards No Earthly Pole" (2019), den man, sobald die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, am Ende des Raumes ausmachen kann. Präsentiert auf einer dreiteiligen Kinoleinwand zwischen zwei Säulen denkt man dabei unweigerlich an einen Flügelaltar.

Auf dessen Sonntagsseite herrscht Dunkelheit, aus dem schwarzen Wasser tauchen plötzlich weiße Eisberge auf, ziehen vorbei und verschwinden wieder, gehen über in dunkle Wasserfälle, fließende Rinnsale, wehende Schneemassen, graues Geröll. Bilder, Landschaften, die man zu erkennen glaubt, und die dann doch wieder völlig neu sind. Das Eismeer in Schwarz, Schnee, der glitzert wie Diamanten, aber anthrazitfarben, Wasser, das aussieht wie Öl, Eisberge wie aus angestrahltem Styropor.

Bei einem ersten Trip in die Antarktis im Rahmen der Antarctic Biennale 2017 kam Julian Charrière die Idee für eine neue Arbeit. An Bord eines russischen Expeditions-Segelschiffs in der Drake-Passage, bei tiefster Dunkelheit, ragten die Eisberge aus dem Nichts hochhausgroß in den Nachthimmel, angestrahlt von den Scheinwerfern des Schiffes, auf die trotz neuster Radar- und Sonortechnik nicht verzichtet werden kann.

Düstere Bilder aus umkämpftem Gebiet

Zurück in Berlin recherchierte er mit seinem Team zu den ersten Expeditionen zum Südpol, zur Geschichte des Nordpols in der Literatur, zu Gletscherüberquerungen und Ewigem Eis und zu zeitgenössischen Bildern und Narrationen, die von diesen extremen Orten kursieren.

Während die Polarregionen in der Romantik mit dem Erhabenen und dem Schönen verbunden waren, in dem auch immer das Unbehagliche und Düstere mitschwingt, sind heutige Erzählungen bestimmt von Katastrophen-Nachrichten zum Klimawandel und handeln von Gletschern, die verschwinden, Eisbären, denen die Schollen unter den Tatzen wegschmelzen, und Pinguinen, denen es allmählich zu warm wird. Gleichzeitig schwelen die Verteilungskämpfe um die ressourcenreiche Natur, zuletzt sehr präsent in den Medien durch den Versuch Donald Trumps, Grönland von den Dänen zu kaufen.

Jeder hat sofort ein Bild im Kopf von den Polarregionen, und meistens ist dieses in allen Schattierungen von Weiß über Hellblau bis Türkis gezeichnet. Anders als auf schneebedeckten Gipfeln waren die wenigsten Menschen aber tatsächlich schon mal an einem der beiden Pole. Hier setzt Charrière mit seinem Filmkonzept an: Es gibt noch genug Raum für eine neue Art der Erzählung von diesen Orten, für eine neue Ikonografie und neue Bilder aus dem Eis, ganz ohne Pinguine und Eisbären, dafür aber nur im Dunkeln aufgenommen. Die düstere und verborgene, bedrohliche Seite des Ewigen Eis.

Zwei Jahre Arbeit in der Kälte

Wie üblich bei den Arbeiten des 32-jährigen Schweizers war dazu keine Mühe zu groß, keine Reise zu weit und keine technische Herausforderung zu hoch. Zwei Drohnen sollten die Bilder generieren, eine, geführt von Charrière selbst, die das Set ausleuchtet, während die andere in der Hand seines langjährigen Kameramanns Johannes Förster filmte, doch sind selbst die teuersten Geräte bei minus 30 Grad normalerweise nicht funktionsfähig und jeder, der schon mal an einem kalten Wintertag mit einem Handy draußen unterwegs war, weiß, wie schnell selbst modernste Akkus den Geist aufgeben.

Über zwei Jahre lang arbeitete Charrière mit seinem Team an dem Film, der im Masi nun erstmals gezeigt wird. Mehrmals reisten sie in die Antarktis, nach Grönland und Island, nachdem die technischen und thermischen Hürden überwunden waren. Außerdem drehten sie auf dem Mont Blanc und am Rhône und Altesch-Gletscher in der Schweiz. Beides obligatorische Stationen auf der Grand Tour des 18. Jahrhunderts und prägende Orte für die Geologie Europas.

Von den eingefrorenen Fingern, dem Transport des 500-Kilo-Equipments auf Schlitten, dem Zelten im Eis und sonstigen Mühen sieht man im 103-minütigen Film nichts. Und auch eine genaue Lokalisierung ist unmöglich, denn meistens sind Bilder aus verschiedenen Aufnahmen und Regionen zusammenmontiert. Ruhig gleitet die Kamera an den Eisbergen vorbei, wechselt zwischen Vogelperspektive und ebenerdigen Aufnahmen, während das Kunstlicht wandernde Schatten erzeugt: Mal schnell wie im Zeitraffer, dann wieder langsam und fast statisch. Über Felsformationen oder abstrakte Eisoberflächen, die an Körperteile oder Haut erinnern, begleitet von einem Soundtrack, in dem der Musiker Robert Lippok natürliche Aufnahmen aus der Natur und komponierte Klänge kombiniert hat.

Das Ewige Eis: ein sterbender Patient

Äußerst selten sieht man Spuren von Menschen oder ihrer Eingriffe in die Natur – in den Umrissen eines Dreimasters, der am Horizont auftaucht und gleich wieder verschwindet, in einer Rückenfigur am Ufer, und schließlich in dem starken Bild der Rettungsdecken, mit denen man am Aletschgletscher die Eisflächen einpackt, um die von Menschen verursachte Schmelze wenigstens etwas herauszuzögern. Ein vergeblicher Versuch, den Klimawandel aufzuhalten, der sterbende Patient unterm Leichentuch, das Erhabene des Anthropozän, wie Julian Charrière es ganz poetisch benennt.

Eineinhalb Stunden lang passiert nichts, es gibt keine Handlung oder Erzählung, und doch wird man völlig eingesogen und gebannt von den Bewegungen der Drohnenkamera und den unwirklichen Landschaften. Es wird langsam kalt da unten, ob das an der Klimaanlage des Museums oder den eisigen Bildern liegt? Zurück an der Oberfläche scheint immer noch die Sonne, aber die Berge gegenüber sieht man mit anderen Augen.