Filmfestival

Venezianische Goldsuche

Foto: dpa
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Die Schauspielerinnen Tilda Swinton (links) und Dakota Johnson kommen am Samstag am Lido an, um "Suspiria" beim 75. Internationalen Filmfestival zu präsentieren

Favoriten und Enttäuschungen: Ein Zwischenfazit nach einem guten Drittel der 75. Filmfestspiele von Venedig

Die Berlinale schien im Februar ein Jahr der Filmemacherinnen einzuläuten: die beiden wichtigsten Bären gingen an Regisseurinnen. Waren in Cannes immerhin drei Filme von Frauen nominiert, konkurriert jetzt in Venedig mit "The Nightingale" der Australierin Jennifer Kent lediglich ein einziger von einer Frau inszenierter Film um den Goldenen Löwen. Festivalchef Alberto Barbera verteidigte sich für die schwache Frauenquote – weil es eben nicht um Quote gehe, sondern um Qualität. Knapp ein Drittel der gesichteten Filme waren von Frauen inszeniert. Behauptet Barbera also indirekt, dass Männer es besser können? Nicht unbedingt, schließlich muss man nach dem Produktionsumfeld eines Films fragen und danach, welche Projekte die Industrie Regisseurinnen zutraut.

Mit "Suspiria" läuft im Wettbewerb ein Film, dessen etwa 40 Figuren mit Schauspielerinnen besetzt sind. Das mag man ausgleichende Gerechtigkeit nennen. Ein starker Cast, den Luca Guadagnino für sein Remake des Horrorfilmklassikers von Dario Argento zusammengetrommelt hat, inklusive Altstars wie Angela Winkler und Ingrid Caven. Tilda Swinton gibt die Choreografin einer Berliner Tanzkompanie, deren unheimliches Quartier direkt an der Mauer steht und sich als wahrer Hexenkessel entpuppt. Es ist der heiße Herbst des Jahres 1977, so richtig klar wird allerdings nicht, warum der RAF-Terror als Erzählhintergrund wichtig sein soll. Und während die Splatter-Szenen ganz schön unter die Haut gehen, wirkt der Nebenstrang um den Psychiater und Holocaust-Überlebenden Dr. Klemperer, der den Tanztheater-Hexen auf der Spur ist, prätentiös in die Story gehäkelt. Der greise Doktor wird laut Pressemappe von Lutz Ebersdorf gespielt, der das von den Wiener Aktionisten und Hermann Nitsch beeinflusste Experimentaltheater "Piefke Versus" gegründet haben soll. Tatsächlich gelingt es dem Zuschauer erst auf den zweiten Blick, unter der perfekten Altherrenmaske Tilda Swinton in ihrer heimlichen zweiten "Suspiria"-Rolle zu erkennen!

Vielleicht wird Swinton die erste Frau, die den einen für Männer reservierten Schauspielerpreis Coppa Volpi gewinnt, oder gleich beide Trophäen. Wobei die bisher wohl anrührendste Performance des Festivals einer Laiendarstellerin gelingt. Neben vielen Profis überzeugt die junge Yalitza Aparicio in der Hauptrolle des Hausmädchens Cleo in "Roma". Roma ist ein Viertel von Mexico-Stadt, in dem sich im Juni 1971 das Massaker von Corpus Christi ereignete. Um das blutige Ende einer Studentendemonstration geht es dem Regisseur Alfonso Cuarón weniger, der hier Kindheitserinnerungen verarbeitet, sondern um ein Gesellschaftspanorama, um die tiefe Kluft zwischen Arm und Reich und die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Sowohl Cleo als ihre Arbeitgeberin, die Arztgattin Sofia, werden von ihren Männer im Stich gelassen. Cleo erleidet eine Totgeburt, ihr bleiben nur noch die drei Kinder der Señora, die sie am Ende vor dem Ertrinken im Meer rettet. Nicht nur wegen Aparicio, die Cleos fragile Position in ihrer "Familie" spürbar macht, ist das feinstoffliche Schwarzweiß-Epos – nach einem guten Festivaldrittel – der bisherige Favorit am Lido.

Dicht gefolgt wird "Roma" von Mike Leighs minutiös recherchiertem Historienfilm über das "Peterloo"-Massaker, bei dem 1819 bei Manchester 15 Menschen starben und über 400 verletzt wurden, als die Kavallerie gegen friedliche Protestler vorgingen. Leighs Sympathien sind ganz beim darbenden Volk, das gegen restriktive Corn Laws demonstriert. Vom König bis hinunter zu lokalen Beamten regiert die blanke Dummheit. Ob der linke Filmemacher dabei auch an die derzeitige Führung in England denkt? Möglich.

Dass man Parallelen zum Polit-Personal in Brexit-Zeiten zieht, bleibt auch bei dem Griechen Yorgos Lanthimos nicht aus, der in "The Favourite" die englische Regentin Anne (kurz vor ihrem Tod 1714) porträtiert und zwei Frauen, die um Einfluss bei der schwerkranken Königin ringen. Ruppig-groteskes Historienkino, bei dem Männer fast nur Staffage sind, und Emma Stone – als um ihre Stellung bei Hof kämpfende Abigail – einem Verehrer kräftig ins Gemächt tritt und sich auch sonst handfest durchzusetzen weiß.

Dass der neue Streich von Joel und Ethan Coen vor allem ein Männerfilm ist, heißt nicht, dass die vorherrschende Spezies eine besonders gute Figur macht. "The Ballad of Buster Scruggs", eine von vier Netflix-Produktionen und deshalb auf dem Lido, weil Cannes den Streaminganbieter vom Wettbewerb ausgeschlossen hat, revitalisiert die ausgestorbene Spezies des Episodenfilms. In sechs unverbundenen Geschichten erzählen die Coens auf ihre drastisch-ironische Art von Westernmythen: von singenden Cowboys, Scharfschützen, Galgenvögeln, Trecks nach Westen, Indianerüberfällen und zerstrittenen Stagecoach-Passagieren.

Nach einer beißend komischen Desperado-Story mit James Franco gibt es eine tieftraurige Episode um einen Shakespeare rezitierenden Wanderschauspieler ohne Arme und Beine (Harry Melling), der von seinem Impresario (Liam Neeson) gegen ein rechenbegabtes Huhn ausgetauscht wird. Außerdem hat Tom Waits ein herrliches Solo als grantiger Goldgräber, der auf den Fund seines Lebens stößt. "Buster Scruggs" ist ein glänzender Film, doch die venezianische Goldsuche geht noch bis kommenden Samstag weiter.