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12 Kunst-Filme, die sich im Dezember lohnen

Harry Styles verliebt sich in einen Kurator, Amalia Ulman gibt ihr Regie-Debüt, und Nan Goldin huldigt den Sirenen: Das sind unsere Film-Tipps des Monats

 

Amalia Ulman und der Schein des Wohlstands

Bloß nicht arm aussehen! Das ist das Wichtigste für Leo und ihre Mutter María. Im Regiedebüt der Künstlerin Amalia Ulman versuchen die beiden Figuren (gespielt von Ulman selbst und ihrer Mutter Ale) den Schein des Wohlstands zu wahren. Dabei ist ihnen wohl bewusst, dass sie am Abgrund ihrer finanziellen Existenz stehen. In "El Planeta", dem kleinen Restaurant am Meer, das dem Film den Namen verleiht, lässt María anschreiben – auf den Namen ihres reichen Politiker-Freundes, der natürlich frei erfunden ist. In ihrem Pelzmantel versteckt sie Lebensmittel, für die sie kein Geld hat. Rechnungen schiebt María immer weiter in die Zukunft, als ob sie sich dann auf magische Weise auflösten. Dass die Fassade längst bröckelt, verraten spitze Kommentare der Menschen, denen sie Geld schuldet.

Leo, die bis dato in London gewohnt und als Stylistin gearbeitet hat, sieht ihre zuvor noch vielversprechende Zukunft in Gefahr, als sie sich der Tragweite der Lage bewusst wird. In der Heimat, der spanischen Hafenstadt Gijón, ist nach der Wirtschaftskrise 2008 Arbeit rar. Der europäische Traum des offenen Arbeitsmarkts und der Zollunion hat hier einen bitteren Beigeschmack.

Die argentinische Künstlerin Amalia Ulman ist den meisten als "Instagram Girl" bekannt. Mit ihrer Online-Performance zeigte sie 2014, wie einfach ein glamouröses Leben auf der Bilderplattform zu faken ist. Der Fake hat in "El Planeta" jedoch einen ernsten Hintergrund. Selbst im spanischen Gijón aufgewachsen, bekam Ulman die Auswirkungen des Wirtschaftscrashs mit. Die Film-Noir-haften Aufnahmen, in denen immer wieder leerstehende Geschäfte zu sehen sind, haben etwas Trostloses. Die fast improvisiert wirkenden Dialoge und ungewöhnlichen Schnitte überzeugen dafür mit der abstrusen Komik eines Godard-Streifens. In jedem Fall ein gelungenes Erstlingswerk.

Amalia Ulman: "El Planeta", auf Mubi

Mutter-Tocher-Beziehung in Amalia Ulmans neuem Streifen "El Planeta"
Foto: Courtesy MUBI

Mutter-Tocher-Beziehung in Amalia Ulmans neuem Streifen "El Planeta"


Ist Mode wirklich für alle da?

Mode, ein flirrendes Wirrwarr zwischen Kunst und Tragbarkeit: Mondäne Kleidungsstücke, eine Ausdrucksform der eigenen Identität. Aber für alle? Nein, lange war sie einer bestimmten Art Mensch exklusiv zugänglich. Diese erkannte sich auf Laufstegen und Werbeplakaten wieder und passte in jedes sie ansprechende Kleidungsstück.

Wie kann Mode für Identität stehen, wenn nicht jede Identität auch repräsentiert wird? Diese Frage stellt die Serie "Beyond Fashion" und beleuchtet damit einen Aspekt, der viel zu lange ausgeklammert wurde. Kleidung vertritt gerade in marginalisierten Gruppen eine wichtige Funktion, wirkt als eine Form der Zugehörigkeitsbekundung, eine Definition der eigenen Werte. In den vier Folgen begegnet Moderatorin Avi Jakobs Personen, die die strengen Grenzen der Modewelt öffnen und sie durch Aspekte der Genderfluidität, Nachhaltigkeit und die Infragestellung von Norm-Schönheit bereichern.

Mode als unpolitische und unantastbare Bubble ist langweilig und veraltet. Spannender ist, weiter nachzudenken: "Warum sollen wir nicht alle alles tragen?", wie Avi Jakobs fragt. "Wir können aufhören, uns gegenseitig auszugrenzen. Es gibt keine Regeln."

"Beyond Fashion", ARD Kultur, bis auf weiteres

Avi Jakobs, Moderatorin der Serie "Beyond Fashion" bei ARD Kultur
Foto: ARD Kultur

Avi Jakobs, Moderatorin der Serie "Beyond Fashion" bei ARD Kultur

 

Ganz die alte Neue Nationalgalerie

Die Formulierung "in neuem Glanz" bringt den Eindruck beim erstmaligen Betreten der Neuen Nationalgalerie nach den mehrjährigen Renovierungsarbeiten auf den Punkt. Denn auf den ersten Blick sieht der Bau ziemlich genauso aus wie zuvor, nur eben, als wäre er gerade erst frisch eingeweiht worden. Trügt das Gedächtnis? Tatsächlich haben sich David Chipperfield und sein Architekturbüro, das mit der Neubelebung betraut wurde, so gut es ging ans Original gehalten und wo möglich mit der ursprünglichen Substanz gearbeitet.

Neu dazugekommen sind, wie im Dokumentarfilm "Wiedergeburt einer Ikone" erklärt wird, lediglich das Depot, ein rollstuhlgerechter Aufzug sowie zwei Empfangstresen. Restaurierung statt Renovierung als Devise: Die Haustechnik wurde erneuert, Spuren der Abnutzung an den einzelnen Originalteilen getilgt. Folglich entspricht die neue Neue Nationalgalerie optisch dem Bau, den Ludwig Mies van der Rohe 1965-68 auf den Platz des Berliner Kulturforum setzte.

Dass das Arbeiten mit dem historischen Material an vielen Stellen komplizierter ist als einfach etwas Neues zu machen, erklärt dieser kurze Film, der nun bei der ARD zu sehen ist: Etwa anhand der nur einfach verglasten ikonischen Fensterfront des modernistischen Gebäudes. "Das größte Problem waren die Fenster in der großen Halle. Die wurden tatsächlich von Mies nicht mit dem nötigen Respekt für das Berliner Klima konzipiert", erklärt Architekt Chipperfield die Hürden der Thermodynamik.

Hatte man zu Beginn der Renovierungsarbeiten noch gehofft, Doppelgläser einsetzen zu können, damit die Fenster im Winter nicht mehr wie bei einem Schwimmbad beschlagen, sah man schnell ein, dass die schmalen Metallrahmen keinen Raum für diese Neuerung ließen. Stattdessen behalfen sich die Bauingenieurinnen und -ingenieure mit einem konstanten, gleichmäßig temperierten Luftstrom, der nun von unten nach oben an der Glasfassade langzieht und der als unsichtbare Schutzschicht der Transpiration entgegenwirkt.

Mit Einblicken wie diesem lässt der Film ganz nah an den Bau herantreten, kontextualisiert ihn aber auch in Geschichte und Jetztzeit. Zu Wort kommen neben dem Stararchitekten Chipperfield unter anderen auch die damalige Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) oder der Architekt und Mies-Enkel Dirk Lohan, der an dessen Stelle 1968 das Gebäude einweihte und auch jetzt an den Baumaßnahmen beteiligt war. Neben Lobpreisungen für den großen Modernisten wird aber auch an das politische Klima erinnert, in dem der Bau entstanden ist, der mit seiner Zukunftsgewandtheit die Gräueltaten des Nationalsozialismus gegen Kunst und Menschlichkeit vergessen machen sollte. Und der dieses Erbe doch nicht abschütteln konnte.

"Wiedergeburt einer Ikone: Wie die Neue Nationalgalerie in Berlin restauriert wurde", ARD-Mediathek, bis 28. August 2023

Die Neue Nationalgalerie nach der Renovierung durch Chipperfield Architects
Foto: © Staatliche Museen zu Berlin / David von Becker

Die Neue Nationalgalerie nach der Renovierung durch Chipperfield Architects


Nan Goldins Sirenen

Die Fotografin und Filmemacherin Nan Goldin hat gerade den ersten Platz auf unserer Top-100-Liste der einflussreichsten Personen der Kunstwelt belegt. Wer es nicht zur Venedig-Biennale geschafft hat oder bis März im Moderna Museet in Stockholm sein kann, findet ihre hypnotische Videocollage "Sirens" derzeit auch online bei der Marian Goodman Gallery. Es ist die erste von Goldins Arbeiten, die vollständig aus gefundenem Material besteht und aus Szenen berühmter und weniger berühmter Spielfilme zusammengeschnitten ist.

Verbindendes Element sind die weiblichen Figuren, die sich in unterschiedlichen Stadien des Rauschs befinden. So wie die mythischen Sirenen, die mit ihrem Gesang Seemänner ins Verderben stürzen, sind die Protagonistinnen Verkörperungen von Ekstase und Sinnlichkeit. Dazu trägt auch der minimalistische Soundtrack der Komponistin Mica Levi bei, der den Bildern eine unwirkliche Qualität verleiht. Wie immer in ihrer Arbeit bewegt sich Nan Goldin tastend zwischen Licht und Schatten, und so ist "Sirens" keine Verherrlichung des Drogenkonsums. Die Künstlerin widmet ihren Film Donyale Luna, dem ersten Schwarzen Supermodel, das 1979 an einer Überdosis Heroin starb.

Nan Goldins "Sirens", Marian Goodman Gallery online

 

Harry Styles liebt einen Kurator

Ein Polizist, seine Verlobte und sein Liebhaber gehen ins Museum. So in etwa lautet die Pointe des Filmdramas "My Policeman" ("Der Liebhaber meines Mannes"), in dem der Sänger Harry Styles einen etwas hölzernen Cop mimt, der sich in einen feinsinnigen Kurator verliebt, dann aber doch eine Frau heiratet. Der Film wird in Rückblenden erzählt, in denen die drei gealterten Charaktere (gespielt von Linus Roache, Rupert Everett und Gina McKee) versuchen, miteinander und mit ihrer gemeinsamen Vergangenheit Frieden zu schließen: Es ist Mitte der 1950er-Jahre, am Strand von Brighton trifft die junge Lehrerin Marion (Emma Corrin) den ebenso jungen Polizisten Tom (Harry Styles). Der wiederum macht kurze Zeit später die Bekanntschaft des Kurators Patrick (David Dawson). Als dieser Tom bittet, für ihn Modell zu sitzen, kommen sie sich näher.

Bald bringt der junge Polizist Marion, mit der er mittlerweile zusammen ist, mit ins Museum, um sie Patrick vorzustellen. Die beiden verbindet sofort ihre Liebe zu Kunst und Kultur, wozu Tom keinen Zugang findet. Als Marion kurz nach der Hochzeit von dem Verhältnis zwischen ihrem Gatten und dem Kunstkenner erfährt, bringt das nicht nur ihre Ehe ins Wanken, sondern auch ihr Vertrauen in Patrick, in dem sie einen engen Freund gefunden hat.

Zugleich erkennt sie die sehr reale Gefahr des Outings für ihren Mann, dem als Homosexuellen drohen würde, suspendiert, wenn nicht verhaftet zu werden. Eine verzwickte Dreiecksbeziehung also. Aber geht es hier um eine schwule Liebesgeschichte, oder ist es die Erzählung eines Familienkonzepts, für das das Dreiergespann in der falschen Zeit geboren ist? Ganz klar ist nicht, ob Tom jetzt Marion liebt und Patrick körperlich begehrt, oder ob Marion nur ein Schutzschild ist, um Repressionen abzufangen. 

Es könnte eine einfühlsame Geschichte sein, über die Aushandlung gegenseitiger Beziehungen, Freundschaft als Familie, die Ambivalenzen zwischen Zuneigung und Eifersucht zwischen Patrick und Marion. Aber was finden die beiden bloß an Tom, dem Mann, um den sich die Erzählung dreht? So richtig nimmt man Styles, der schon öfter Kritik für "Queerbaiting" abbekommen hat, also für das Suggerieren einer fluiden Genderidentität aus Promotion-Gründen, den bisexuellen Bobby nicht ab.

Vielleicht ist Styles' Performance aber auch dem Charakter des kulturfernen Polizisten geschuldet, den man eindimensionaler nicht hätte schreiben können. Umso eindrücklicher fängt dafür David Dawson die ambivalenten Erfahrungen eines schwulen Mannes in jener für queere Menschen lebensfeindlichen Zeit ein: die strukturell homophobe Gewalt und den Verlust geliebter Personen ebenso wie tiefe Gefühle von Familie und Partnerschaft. Mit reduzierten Mitteln verkörpert er eine komplexe und doch nahbare Figur, ohne die Reinszenierung von klischeehaftem "queeren Leiden".

"My Policeman (Der Liebhaber meines Mannes)", auf Amazon Prime 

Harry Styles, Emma Corrin und David Dawson in "My Policeman" ("Der Liebhaber meines Mannes")
Foto: Amazon Studios

Harry Styles, Emma Corrin und David Dawson in "My Policeman" ("Der Liebhaber meines Mannes")


Mario Pfeifer ruft die Jury 

Der Videokünstler Mario Pfeifer brachte 2018 ein genuin deutsches Thema auf die Berlin Biennale, und es ist kein angenehmes. Er inittierte das Reenactment eines Vorfalls im sächsischen Arnsdorf, wo sich ein Asylbewerber aus dem Irak 2016 in einem Supermarkt mit einer Kassiererin stritt und daraufhin von einer selbsternannten Bürgerwehr an einen Baum gefesselt wurde. Die Rechte verkaufte diese Aktion als Zivilcourage.

Gemeinsam mit den Schauspielern Mark Waschke und Dennenesch Zoudé, die Journalisten spielen, und einer Jury aus Bürgern und Bürgerinnen rollt Pfeifers Film "Again" den Fall eindrucksvoll neu auf. Bis zum 23. Februar 2023 ist der Film nun in der Arte-Mediathek verfügbar.

"Again - Noch einmal", Arte-Mediathek, bis 18. Februar 2023


Max Beckmann auf Reisen

Die kleinen Boote mit weißen Segeln treiben in paradiesisch blauem Wasser, das an einem besonders heißen Sommertag an der französischen Côte d'Azur sehr erfrischend aussieht. Der Künstler Max Beckmann ist vertraut mit diesem Ort, den er in den 1920er-Jahren mit seiner zweiten Frau Mathilde, genannt "Quappi", regelmäßig besucht. In einer bunten Intensität greift der Maler hier das auf, was er sieht. Das Meer, die Pflanzen und die kulinarischen Köstlichkeiten des Landes bringt Beckmann als atmosphärische Idylle auf die Leinwand. Es ist die Sehnsucht nach dem Meer und die Offenheit für neue Orte und Menschen, die die Beckmanns antreibt, immer wieder die Koffer zu packen und auf Reisen zu gehen.

Für die Verbildlichung von träumerischen Urlaubszielen ist der Künstler eigentlich nicht bekannt. Trotzdem ist das Motiv der Reise in seinem Oeuvre wiederkehrend und durchaus bezeichnend für sein Leben. Max Beckmann, geboren 1884 in Leipzig, überlebt das Scheitern der Weimarer Republik, zwei Weltkriege, politischen Wandel und gesellschaftliche Umbrüche. Die Erfahrungen, die er dabei macht, greift er in seinen Bildern eindrücklich auf und dokumentiert so auch immer die Zustände und Stimmungen seiner Zeit.

So finden sich dringliche Zeichnungen aus einer dunklen Zeit, die Beckmann während dem ersten Weltkrieg als Sanitäter in einem Lazarett verbringt. Da ist aber auch das Porträt einer mondänen Quappi, die der Zukunft in Zuversicht entgegenblickt. Quellende dunkle Wolken über dem Hafen von Genua, die den Beginn des Faschismus antizipieren. Kleine Landschaften ohne Weitsicht, metaphorisch für die Mauern des Exils in Holland. Und dann ein wilder, bunter Großstadtdschungel zwischen den Hochhäusern New Yorks. Die Dokumentation "Max Beckmann – Ein Reisender" erzählt die Geschichte eines Künstlers, dessen Leben und Werk durch die Orte und Stationen geprägt sind, an denen er sich mal gewollt, mal ungewollt aufhält.

"Max Beckmann – Ein Reisender", Arte-Mediathek, bis 1. Juni 2023


Was Cézanne im Louvre denkt

Ingres hatte nur die Linie. Das, was er macht, ist bestenfalls eine mit Farbe gefüllte Zeichnung. Die Malerei beginnt erst mit den Venezianern. Diese leicht grummeligen Gedanken beim Betrachten von allgemein geschätzten Meisterwerken stammen vom französischen Künstler Paul Cézanne - der offenbar von einigen Kunstwerken im Louvre nicht unbedingt beeindruckt war. Seine überlieferten Meinungen zu Kunst haben der kürzliche verstorbene französische Regisseur Jean-Marie Straub und seine Partnerin Danièle Huillet 2003 in einen Film gegossen. 

In "Ein Besuch im Louvre" werden Werke aus dem berühmten Museum in meditativen, kunstvoll komponierten Bildern gezeigt. Dazu spricht die Schauspielerin Julie Koltaï die Cézanne-Texte, die auf Gesprächen mit dem Kunstkritiker und Dichter Joachim Gasquet basieren. Den experimentellen (und etwas ereignisarmen) Film muss man als Streifzug durch die Gedanken eines Malers begreifen. Und eine seltene Gelegenheit, die Werke im Louvre ganz ohne Menschenandrang an sich vorbeiziehen zu lassen.

"Ein Besuch im Louvre", 3-Sat-Mediathek, bis 23. Dezember

"Ein Besuch im Louvre", Filmstill, 2003
Foto: 3 Sat

"Ein Besuch im Louvre", Filmstill, 2003


Ein "Wonder Boy" der Mode sucht Heimat

2011 wird Olivier Rousteing mit nur 24 Jahren der neue Creative Director des französischen Modehauses Balmain und ist damit der jüngste seiner Art seit Yves Saint Laurent. Er trifft die Mode-Elite, wird gefeiert für seine Shows und versechsfacht den Umsatz des französischen Luxusunternehmens. Er lebt für seinen Job - und doch ist es nicht die glamouröse Modewelt, die Rousteings Gedanken dominiert. Ab der ersten Sekunde des Dokumentarfilms "Wonder Boy" (auf Netflix) sind es seine leiblichen Eltern, die er nie kennengelernt hat.

Der Modedesigner wurde als Baby zur Adoption freigegeben und wird bei der Suche nach seiner unbekannten Familie begleitet. So geht es nicht nur, wie man es von dieser Art Film gewöhnt sein könnte, um das Drama vor der nächsten Show, sondern um einen jungen, erfolgreichen Mann, der abends allein in einem riesigen Zimmer Sushi isst, zu seinen geliebten Großeltern fährt und mit ihnen die neuesten Entdeckungen der Adoptionsagentur bespricht, die ihm hilft, Informationen über seine leibliche Mutter zu sammeln.

Rousteing wirkt wie ein verlorener Junge, wenn er Claudia Schiffer begrüßt und im nächsten Moment schluchzend Details über seine Geburt erfährt. Nachts wird er von seinem Chauffeur durch die weiten Straßen von Paris gefahren und vertraut ihm an, was ihn wirklich beschäftigt. Er habe gelesen, er sei ein "Wonder Boy". Was das ist? Ein Junge, der erfolgreich ist, ohne besonders viel Glück in seiner Vergangenheit gehabt zu haben.

"Wonder Boy", auf Netflix

Balmain-Designer Olivier Rousteing mit seinen Großeltern im Film "Wonder Boy"
Foto: Netflix

Balmain-Designer Olivier Rousteing mit seinen Großeltern im Film "Wonder Boy"


80 radikale Jahre mit Rosa von Praunheim 

Er sieht sich als "Glückskind" – und so lautet denn auch der Titel eines Filmporträts über Rosa von Praunheim von Marco Giacopuzzi. Anfangs favorisiert der Künstler einen anderen Titel: "Rosas Abschied". Denn: "Ich verabschiede mich gern." Nur könne sich das Abschiednehmen hinziehen, wie bei Sängern, die zehn Jahre lang Farewell-Tourneen veranstalten. Bald ruft er die Bye-bye-Headline zurück, geht nicht, "denn dann kriege ich keine Aufträge mehr. Ich muss ja noch arbeiten, um zu überleben."

Bekannt wurde der als Holger Radtke 1942 in Riga geborene Pionier des queeren Kinos mit seinem Film "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt", in dem er 1971 die homophobe Mehrheitsgesellschaft provozierte. 1972 nahm von Praunheim mit dem Film an der Documenta teil, in der Sektion "Filmschau: Anderes Kino", und feierte damit US-Premiere im New Yorker MoMA. Sein zweiter Spielfilm "Die Bettwurst" (ebenfalls 1971) wurde zum Kultfilm – und vor kurzem zum Musical. Das erlebte im September seine Uraufführung in der Berliner Bar jeder Vernunft und läuft im kommenden Februar wieder dort. Regie: Rosa von Praunheim, wer sonst?

Er ist ohnehin produktiv wie eh und je. Bis zum 11. Dezember läuft die Malereiausstellung "Rosa von Praunheim. Nackte Männer – Nackte Tiere" in der Charlottenburger Galerie Mond. Er hat vor kurzem mit "Rex Gildo – Der letzte Tanz" einen neuen Film ins Kino gebracht und ein paar Tage danach einen Roman veröffentlicht: "Hasenpupsiloch" handelt von der Freundschaft des jungen Daniel aus der Provinz zu drei Berliner Damen, die ihn in die schwule Welt des Tiergartens einführen und sich vom jungen Mann überreden lassen, einige Despoten dieser Welt unschädlich zu machen. Eine Fantasie. Realität ist, dass Rosa von Praunheim über 150 Filme (!) gemacht hat, um genüsslich bei den Spießern anzuecken.

Von Praunheim schont aber auch die eigene Community nicht, indem er vielen Schwulen Anpassung vorwirft. Indem Rosa einige prominente Homosexuelle gegen ihren Willen outete, machte er sich Feinde. Für die jüngere Generation von LGBTIQ+-Aktivistinnen und Aktivisten ist der Filmemacher zwar noch als Figur aus der Frühzeit der queeren Bewegung bekannt, als weißer Cis-Mann findet er aber dort kaum Gehör. Rosa will aber nicht streiten und theoretisieren, sondern sich vor allem kreativ ausleben. Weggefährtinnen und Weggefährten wie der Zeichner Ralf König, die Produzentin Regina Ziegler und der New Yorker Publizist Brandon Judell würdigen das "Glückskind", das am 25. November 80 Jahre wurde.

"Glückskind - Der schwule Filmemacher Rosa von Praunheim ist 80", ZDF-Mediathek, bis 25. Dezember

Der Filmemacher Rosa von Praunheim
Foto: dpa

Der Filmemacher Rosa von Praunheim


Cringe: Der "Szene Report" schaut auf Jugendkulturen

Erinnert sich noch wer an die Stadtmusikbande? Die Gruppe von Bremer Jugendlichen sorgte 1992 für Furore, als "Spiegel TV" oder sonst ein reißerisches Hyper-Reality-Format sie beim Rappen, Graffitimalen und Abhängen in der Kneipe "Zum blauen Manfred" begleitete: Die weltverändernde Kraft des Hip-Hop war bis in den Stadtteil Woltmershausen vorgedrungen, und jetzt schien alles möglich, solange es Bier und Zusammenhalt gab.

Tatsächlich ist die TV-Reportage lediglich zwei Jahre alt und die Bandenmitglieder – Musiker aus dem Umfeld des Labels Erotic Toy Records – und spielten lediglich 90er-Jahre-Slacker. Die Komik der Fake-Doku "Die Stadtmusikbande", die von Hannes Rademacher und Till Lucas 2020 auf YouTube veröffentlicht wurde, entsteht aus dem Versuch erwachsener Journalisten, eine Subkultur zu beschreiben, die sie selbst nicht verstehen. Wenn Wörter wie "Rap" oder "Writing" überbetont werden, als seien sie krasse Aliens im Off-Kommentar, wenn Ortswechsel unbeholfen mit der Ansage "Ortswechsel" versehen werden, wenn die Kamera begierig auf jedes kleines Aufleuchten von Energie zoomt, eine Energie, die die festangestellten Redakteure schon lange nicht mehr haben.

Jetzt bringt Hannes Rademacher das Konzept in den neuen Digitalkanal ARD Kultur. Die Mockumentary-Serie "Szene Report" funktioniert nach dem gleichen Muster: Der staunende, exotisierende und auch immer ein bisschen empörte Blick der Medien auf "die jungen Leute von heute". Es ist eine Parodien, nicht auf Subkulturen, sondern aufs Fernsehen der 2000er-Jahre. In der ersten Folge lernen wir eine Gruppe von Emo-Jugendlichen kennen, in der zweiten eine Lan-Party-Community, versüßt mit zahlreichen Gastauftritten von El Hotzo bis Rocko Schamoni.

Heute haben sich Jugendkulturen im zeitlosen Retromania-Nebeneinander der Streamingdienste und sozialen Medien mehr oder weniger aufgelöst, deshalb ist es eine Lust, den "Szene Report" anzuschauen. Er berichtet von einer Zeit, als der Rückzug in Sub-Nischen noch ein Statement war, das man performativ in den öffentlichen Raum stellte. Heute erledigen die Algorithmen die Einordnung in Bubbles ganz automatisch. (Bitte die Worte "Algorithmen" und "Bubbles" beim Lesen stark betonen!)

"Szene Report", ARD Kultur

Sieht so Jugendkultur aus? Die ARD-Satire "Szene-Report" will es herausfinden
Foto: ARD

Sieht so Jugendkultur aus? Die ARD-Satire "Szene-Report" will es herausfinden


Balenciaga im Dreck

Das Modehaus Balenciaga ist das unangefochtene Lieblingslabel der Kunstwelt - steht aber wegen zweier Werbekampagnen, die  als Verharmlosung von Kinderpornografie angeprangert wurden, gerade massiv in der Kritik. Ein Grund für die Empörung waren Fotos von sehr jungen Models, die mit Teddys in Ledermontur fotografiert wurden. Diese Kombination wurde als Hinweis auf BDSM-Kultur aufgefasst.

Wer wissen will, in welchem Kontext die Sadomaso- oder Punk-Plüschtiere (es gibt beide Interpretationen) zuerst zu sehen waren, kann sich auf Youtube noch einmal die Pariser Balenciaga-Schau zur kommenden Frühjahr-/Sommerkollektion anschauen. Dort stapften die Protagonistinnen inklusive schmutziger Teddy-Handtaschen durch eine apokalyptische Schlammlandschaft des Künstlers Santiago Sierra. Die Schau ist äthetisch das Gegenteil der glatten Kinderzimmer-Motive, die die Marke später für seine Fotokampagne benutzte - und für die sich Balenciaga inzwischen entschuldigt hat. 

Eine weitere Kontroverse ist in der derzeitigen Empörungswelle fast schon wieder in Vergessenheit geraten. Die Pariser Schau wurde vom Rapper Ye, ehemals bekannt als Kanye West, eröffnet. Wegen antisemitischer Äußerungen hat das Unternehmen die Zusammenarbeit mit ihm inzwischen beendet.

"Balenciaga Summer 23 Collection", auf Youtube

Model mit einem der Bondage-Teddy-Handtaschen bei der Schau zur Sommer-Kollektion von Balenciaga 2023
Foto: Balenciaga

Model mit einer der Bondage-Teddy-Handtaschen bei der Schau zur Sommer-Kollektion von Balenciaga 2023