Alex Müller in Berlin

Von der Hand an die Wand

Alex Müllers Ausstellung in Spandau ist ein Trip durch deutsch-deutsche Familiengeschichten, Sprachlosigkeit und vererbte Muster. Die eigentliche Sensation ist dabei aber ihre virtuose, unerschrockene Malerei, die längst in internationalen Museen hängen sollte

Es passt richtig gut, dass "Alexandraplatz", die Ausstellung der Berliner Künstlerin Alex Müller, in einer alten Kaserne aus dem 19. Jahrhundert in der Zitadelle Spandau stattfindet. Hier ist das Zentrum für Aktuelle Kunst (ZAK) untergebracht, von dem manche Leute wahrscheinlich noch nie gehört haben: ein Ort an der Peripherie, der, völlig irre, eine fußballfeldgroße, insgesamt 2500 Quadratmeter große Ausstellungsfläche bietet.

Wer den preußischen Bau betritt, wird diesen typischen Geruch wahrnehmen, der in öffentlichen Gebäuden, Ämtern, Schulen über Jahrhunderte hängen bleibt: Putzmittel, Papier, der Geruch von längst abwesenden Körpern, Soldaten, Kindern, Beamten – diese Aura der Disziplinierung, die uns allen (wie in Foucaults "Überwachen und Strafen") eingebläut wird. Foucault beschreibt darin, etwas vereinfacht gesagt, die Geburt des modernen Gefängnisses im frühen 18. Jahrhundert und wie sich die Mechanismen der Macht, Überwachung, Konditionierung aus den Gefängnissen in die Institutionen und in alle Lebensbereiche ausgelagert haben.

"Alexandraplatz" beschäftigt sich mit den Erfahrungen dieser Gewalt, die ebenso groß, historisch und kollektiv sein kann wie der Alexanderplatz, aber auch ganz klein, ganz persönlich, in ganz alltäglichen Details verborgen. Gewalt, die in unserem Inneren verhandelt, bearbeitet, transformiert wird, am Alexandraplatz, an deinem Platz, der nur dir gehört, wo keiner hinkommt, der unendlich leer und frei bleiben muss. Genau diese Spannung macht diese Ausstellung so toll. Denn sie spricht nicht nur über Konditionierung und Gewalt, über die Mühlen von Elternhäusern, Schulen, Kasernen, Fabriken, Krankenhäusern, Schlachthäusern, sondern auch über Widerstand, Vision, Erinnern, das Überwinden von Mustern, die von Generation zu Generation weitervererbt werden.

Erinnerungen in Kissenform

Wir fangen die Ausstellung in einem breiten, über 30 Meter langen Gang an, von dem man sich vorstellen kann, dass da Wagen mit Akten oder Lazarettbetten durchgerollt sind. Die Wand gegenüber der Fensterfront hat Müller mit Kissen gepolstert, einem Raster aus rund 350 prall ausgestopften Kissen, das an Minimal Art, an die ausgestopften "Farbraumkörper" (nur ohne Farbe) des Malers Gotthard Graubner, an die Polsterung von Gummizellen denken lässt.

Auf jedes der Kissen ist einer der 350 Briefe gedruckt, die Müller 2020 von ihrem Vater geerbt hat. Der war Anfang der 1960er-Jahre, erst 17-jährig, von Wilhelmsruh im Berliner Osten in den Westen geflohen. Die zwischen 1961 und 1971 geschriebenen Briefe stammen von Müllers Ostberliner Großeltern, die ihren Sohn wegen dessen Einreiseverbots über elf Jahre nicht sehen und sprechen konnten.

Tatsächlich können sie ihm seine Flucht nie wirklich vergeben, besonders die Mutter tut sich schwer. Doch darüber wird nie gesprochen. Auch in den Briefen werden nur alltägliche Dinge berichtet, Neuigkeiten von den Nachbarn, kleine Unfälle, praktische Dinge. Man weiß, dass die Post kontrolliert wird. Aber die Briefe bleiben ein Leben lang Thema in der Familie. Noch kurz vor seinem Tod ordnet sie der Vater aufs Neue. Schon als Kleinkind wird Müller mindestens drei Mal im Jahr zu den Großeltern geschickt. Sie fliegt vom Rheinland, wo ihre Familie lebt, nach Tegel, wird dort von einer Großtante in Empfang genommen, die sie zum Grenzübergang bringt und einer DDR-Beamtin übergibt. Die Großmutter wartet auf der anderen Seite.

Die kleine Alex liebt die Zeit in der Bäckerei ihrer Großeltern. Sie mag es, mit den Cousins in die Krippe zu gehen, den völlig anderen Lebensstil in Wilhelmsruh. Ihr Großvater war im Zweiten Weltkrieg in Rommels Afrika-Korps, kurz vor Kriegsende tritt er auf eine Landmine und verliert das halbe Bein. Er spricht nie über den Krieg und geht nie wieder im See baden. Seine Enkelin hilft ihm manchmal, die Prothese anzuziehen. Für fast zehn Jahre ist der Ort, den ihr Vater als Jugendlicher verlassen hat, ihre zweite Heimat. Zeitweilig möchte sie in der DDR leben. Doch die 350 Briefe, die sie als erwachsene Künstlerin für die Installation "Von der Hand an die Wand" als Kissen ausstopft, offenbaren ein Vakuum, eine unglaubliche Sprachlosigkeit, die Unfähigkeit zu vergeben oder zu trauern.

Die Mauer im Kopf

Zu der Installation gehört eine Soundarbeit, auf der Müller die Daten und Anfänge der Briefe vorliest: "Wilhelmsruh, der 5. April 1963", "lieber Manfred" oder "mein lieber Sohn" – eine meditative Litanei, eine Aneinanderreihung von immer wiederkehrenden Sprachhüllen. Diese Arbeit ist wie alles, was Müller macht, obsessiv, irgendwie wortwörtlich, sprichwörtlich, ein Sprachbild, ein Denkbild. Von der Hand an die Wand: Da geht es um dieses ewige Vor-die-Wand-Fahren, das Gegen-das-Gleiche-Anrennen.

Natürlich ist die Wand auch die Mauer, die sich durch Deutschland zieht, oder die Familie – oder deinen Kopf. Müller hat die 1300 Quadratmeter der oberen Etage des ZAK mit 56 Arbeiten gefüllt – denn sie ist jetzt 56, wie sie mir erklärt. Wir stehen vor einer mit getrockneten Schälerbsen überzogenen, etwas zu kurzen Badewanne, daneben noch eine Säuglingswanne, beide alt, herausgerissen aus einer Wohnung, in der alle weg oder gestorben sind. Titel: "Der Anfang steht schon fest".

Man kann sich vorstellen, dass da eine Konversation stattfindet: zwischen Mutter und Kind, einer großen Person, die mit einer kleinen spricht, wobei sie vielleicht auch eine einzige Person ist, zu verschiedenen Zeiten. Man kann sich vorstellen, dass da jemand Erbsen zählt, auf einem Badewannenrand sitzt, tief unten im Meer, während sich oben, über der Wasseroberfläche, die Welt weiterbewegt. Und diese Person hier unten zählt und zählt, und denkt und denkt, während sich die Zeit, wie Muschelkalk oder Erbsenkruste auf die Wannen legt.

Irgendwo hinten im Saal fährt ein Gittergestell, eine Mischung aus Bank und Teewagen, auf einer kleinen Schiene hin und her, wie in einer kleinen, schwachsinnigen Fabrik. Die Arbeit heißt auch "Das Hin und Her". Da liegen wieder Hüllen drin, fein säuberlich in Reihen angeordnet: Papiermanschetten, in denen man selbstgemachte Trüffel oder Sachen mit Mandelsplittern oder Krokant anrichtet. Müller hat aber aus Reclam-Heftchen gerissene, in Paraffin getränkte, zerknüllte Seiten darin arrangiert, aus Bänden wie Schillers "Die Räuber", Lessings "Nathan der Weise" und "Das Stuttgarter Hutzelmännlein" von Mörike. Das ist ein Volksmärchen, in dem auch die schöne Lau vorkommt, die von ihrem Mann wegen Schwermütigkeit und Kinderlosigkeit verstoßen wird und als Wassernixe auf dem Grunde des Blautopfs bei Blaubeuren leben muss, bis sie jemand zum Lachen bringt. Die deutsche Lektüre fährt da wie bei einem sakralen Büffet immer hin und her.

Eine prekäre Freiheit

Ich sage zu der Künstlerin, wie obsessiv und unangenehm ich diese wortwörtlichen, sehr deutschen Skulpturen und Installationen finde, fast etwas belehrend. Nachts werde ich von diesem Hin und Her träumen, ein Offenbarungs- und Überforderungstraum. An einem mit Spiegeln beklebten Pfeiler lehnt eine kleine Holzfigur, die Müller einmal in Neukölln gefunden hat. Die Werbung eines Ladens vielleicht, die ein Kind oder eine Frau darstellt, ausgeschnitten, zweidimensional, wie eine Brotscheibe. Über diese Gestalt hat sie knallhart ein schwarzes, mit goldenen Insekten-Stickereien verziertes T-Shirt gezogen, wie ein Kapuzenkleid, eine Kutte, sodass das malerische, geschminkte Geschöpf aussieht wie der schreckliche Kobold aus "Wenn die Gondeln Trauer tragen" oder Valeska Gert in Fellinis "Julia und die Geister".

Cocco heißt die Figur, die auch eine Hommage an Müllers Mutter ist, die Chanel liebte, ohne je ein Kleidungsstück davon zu besitzen, und die mit ihrer Tochter ein extrem schwieriges Verhältnis verband. Man möchte sich zu der Gestalt hinknien und diese narzisstische Kind-Mutter trösten, ihr sagen, dass sie schön und gut ist. Zugleich ist sie eine Botin, eine Art Transitfigur zwischen Müllers Skulptur und ihrer spektakulären Malerei, die auch in ihrer Serie von bemalten, gesteppten, ausgestopften Satinfahnen, die "Endlich Dick" heißt, aus der dreidimensionalen Form ausbricht.

Da, wo die Installationen und bildhauerischen Werke Zwang, Kontrolle, Kondition verkörpern, eine Art Skelett oder Mechanik bilden, da ist Müllers Malerei absolut frei, so wie die Lahmen und Blinden, die in Lourdes geheilt werden, sehen und gehen können. Das ist keine utopische, sondern eher eine prekäre Freiheit, die aber letztendlich bedingungslos, unantastbar, immer da ist. Wie Müller diese Freiheit malt, hat etwas Abgebrühtes, aber auch etwas von einem Wunder.

Da ist dieses Gemälde von 2016, das ich atemberaubend finde: eine durchschimmernde, wahrscheinlich weibliche Gestalt in einem Rollstuhl, die ihren Kopf zur Seite wendet, zurückblickt, während sie von einem diffusen Licht umhüllt wird. Müller erzählt, dass ihre Mutter zehn Jahre im Rollstuhl saß, dass sie selbst auch eine Freundin im Rollstuhl hatte. Man ahnt aber, dass dies weder die Mutter noch die Freundin ist, sondern ein Zustand, die Essenz des Im-Rollstuhl-Sitzens, des Fest-Sitzens. Und das findet hier ein Ende, wahrscheinlich im Tod, vielleicht auch einfach durch eine Erfahrung oder Erkenntnis.

Dieses Bild, das "Das Ja" heißt, ist wie ein Aushauchen, von dem wir wissen, dass es irgendwann kommen muss. Diese spirituelle Idee, dass wir unsere Behinderungen oder unser Sterben mit einem radikalen "Ja" begrüßen können, könnte zu schrecklicher, besserwisserischer Malerei führen. Doch Müllers Bild hat etwas Emphatisches, eine große Einfachheit, ohne dabei plump oder naiv rüberzukommen. Wie das nebelige Licht einfällt, sie die Speichen des Rollstuhls aufleuchten lässt, ist unglaublich gekonnt, zart und subtil.

Vielleicht sollte man einfach mal genauer hinsehen

Müllers Malerei ist nie grandios oder aufgeblasen, sondern bescheiden, sakral wie eine Illustration in einem Kinderbuch, die eine neue Welt eröffnet, volkstümlich wie ein frühes Studiogemälde von Matisse, magisch wie eine mittelalterliche alchimistische Illustration, in der sich männliche und weibliche Prinzipien vereinen. "Ali, Alex, Sandra" heißt eine riesige Zeichnung von 2005, ein Selbstporträt, das Müller als hermaphroditischen Sonnengott mit männlichen und weiblichen Namen zeigt, mit Fineliner auf einen fleckigen weißen Teppich gezeichnet. Arte Povera.

Fast alle Gemälde Müllers sind mit Tusche gemalt, auch mit guter alter Schultusche von Pelikan, manchmal in Verbindung mit Acryl, dann wieder auf Satin oder Samt. Wer sich jemals in Samtvelours, Samt oder Nicki-Stoff bekleckert hat, weiß, wie die Flüssigkeit Furchen, fast Narben auf der Oberfläche des Stoffes bildet, als sei das Haut. Die Frauenbildnisse, wie die magischen, ineinander versunkenen "Sammlerinnen" von 2013, bekommen dadurch eine extreme Haptik und Körperlichkeit und zugleich etwas Unkontrollierbares, Unscharfes.

Ich frage, wer denn die Frauen auf ihren Gemälden sind. Die entstehen beim Malen, antwortet sie, obwohl all diese Figuren wie Persönlichkeiten aussehen. So auch die "Luperin" (2022), auf die man wie durch ein Vergrößerungsglas blickt, während sie expressiv, im roten Kleid durch einen dunklen Raum huscht, vielleicht eine glamouröse Verbrecherin in einem Stummfilm. Müllers alchemistische Frauenfiguren sind getränkt in mögliche Geschichten, in Anspielungen auf Filme, Malerei, Moden, Literatur und Ideologien des 20. Jahrhunderts. Man könnte auch sagen, sie sind damit beladen und versuchen, sich zu befreien, etwas Neues zu beginnen. Das ist bei Müller ein ebenso politischer und psychologischer wie auch mystischer Prozess. Und in ihrer Malerei gelingt ihr etwas Ungewöhnliches: Sie verbindet die queere rheinische Spiritualität von Kai Althoff oder Michael Buthe mit etwas Östlichem, Trockenem, fast Epischem. So, als würde man hinter die Inszenierung gucken, regelrecht enttäuscht, und auf Farbe, Material, Form zurückgeworfen werden.

Da ist etwas Märchenhaftes, etwas Schnodderiges, etwas von Drag und Fummel, in dieser Ost-West-, Köln-Berlin-Verbindung und zugleich eine politische, analytische Dimension. Immer wieder entpuppt sich das Narrative, das, was da so biografisch, persönlich oder traumatisch erscheint, lediglich als Hülle für die gar nicht so figurative Malerei – wie ein Kissenbezug oder eine Papiermanschette. Dass noch kaum jemandem aufgefallen ist, dass Müller durch und durch Malerin ist, eine der interessantesten deutschen Malerinnen ihrer Generation, mag an der skulpturalen und installativen Natur ihrer Ausstellungen liegen. Vielleicht sollte man aber einfach mal genauer hinsehen.