Fotofestival in Arles

Muss man gesehen haben

Nach den dürren Pandemie-Jahren ist das berühmte Fotofestival im südfranzösischen Arles so gut besucht wie nie. Dort fügen sich Klassiker, Wiederentdeckungen und Nachwuchspositionen zu einem Gesamtkunstwerk zusammen. Ein Rundgang zu den Highlights 

Anfang Juli, wenn sich die ersten auf den Weg in die Sommerferien machen, trifft sich die internationale Fotografieszene im beschaulichen Arles in der Provence. Die Rencontres d’Arles, seit über 50 Jahren eines der wichtigsten Fotografie-Festivals der Welt, startet nach der Pandemie schon mit einem Rekord: Die Eröffnungswoche war so gut besucht wie noch nie, 40 Prozent der Gäste waren aus dem Ausland angereist.

Verteilt über die ganze Stadt präsentiert das Festival rund 30 Ausstellungen: Klassiker der Fotografie genauso wie Newcomer, französische und regionale Größen neben internationalen Talenten. Auch wenn die Hitze und die südfranzösische Urlaubsstimmung das Tempo des Ausstellungsrundgangs vielleicht etwas verlangsamen, lassen sich die 20 Orte gut überschauen, und alles ist fußläufig erreichbar. Ein Rundgang durch die Highlights der diesjährigen Ausgabe:

Das Festivalteam hat einige thematische Sektionen ausgearbeitet, unter denen sich die unterschiedlichen Ausstellungen zusammenfassen lassen. Dieses Jahr liegt ein Fokus auf der Schnittstelle von Fotografie und Film, auf Erkundungen der Region und ihres Ökosystems sowie auf Wiederentdeckungen und nachleuchtenden Reminiszenzen. Aber auch die neuen, aufstrebenden Positionen dürfen nicht fehlen, und die lassen sich am besten bei der Präsentation des Discovery Award Louis Roederer kennenlernen, der als kuratierte Ausstellung in der Kirche Frères-Prêcheurs (einem der vielen als Ausstellungsort dienenden Gotteshäuser) stattfindet.

Ein karibischer Traum in der harten Realität

Statt eines thematischen Fadens vereint die Arbeiten der zehn nominierten Künstlerinnen und Künstler ein gemeinsamer Ansatz: Wie die vielbeschworene Beziehung zwischen Betrachter und Bild durch das persönliche Gedächtnis und unsere Sehgewohnheiten geprägt wird. Das Thema ist nicht neu, doch die Perspektiven sind sehenswert. Nicht verpassen: die in Kairo lebende Lina Geoushy, die in ihren Fotos eine feministische Lesart der ägyptischen Geschichte vorschlägt und wichtige Frauen des Landes – Politikerinnen, Schauspielerinnen, Aktivistinnen – anhand von gefundenen Fotografien, Presseschnipseln oder Archivmaterialien und Selbstporträts in den Fokus rückt.
 
Auch die Serie der aus Jamaica stammenden, in New York lebenden Samantha Box stechen heraus. In ihrem Studio kreiert sie ein Bild der karibischen Kultur in der Diaspora: Tropische Pflanzen, die in den USA "fremd" sind, gedeihen unter Kunstlicht, karibische Produkte oder Lebensmittel und persönliche Erinnerungsstücke sind als kostbare Stillleben inszeniert. Der Traum des tropischen Paradieses in der harten Realität der US-amerikanischen Konsumkultur.
 
Einen besonderen Blickwinkel nimmt der französische Fotograf Philippe Calia ein, der in Indien lebt und sich mit der Institution des Museums als imperialistischer Bildungsstätte auseinandersetzt. Die Museen, die er im Land fotografiert hat, stehen exemplarisch für den kolonialistischen Wunsch, die Welt zu ordnen und zu kategorisieren, indem sie Artefakte aus dem Kontext reißen und anhand von pauschalisierenden Einordnungen ein Bild der Gesellschaft prägen. Dazu zeigt Calia Ausschnitte aus Besucherbüchern der Museen und die Kommentare der Betrachter, die von Lob für die zur Schau gestellte Realität und Restitutionsforderungen reichen.

Groschenromane als Fotokunst

Unter die Entdeckungen fallen aber auch zwei Künstlerinnen, die beide über 70 sind und in Arles zu später Ehre gelangen. Die polnische Künstlerin Zofia Kulik zeigt Einblicke in ihr einzigartiges Werk aus großformatigen schwarz-weißen Fotomontagen, die sie aus tausenden fotografischen "Einzelteilen" in der Dunkelkammer zu durchkomponierten, ornamentalen Bildern anordnet. Körper, Knochen, Pflanzen, Flaggen, Gebäude dienen ihr als Teile eines Alphabets, aus denen sie an sakrale Kirchenfenster erinnernde Bilder entwickelt. Nur, dass darin nicht biblische Geschichten, sondern von totalitären politischen Regimen der Sowjetzeit, von Macht und patriarchalen Strukturen erzählt wird.

Ein Heimspiel hat Nicole Gravier, die in Arles geboren ist und heute wieder dort lebt, nachdem sie lange in Italien studiert und gelehrt hat und vor allem dort in Ausstellungen repräsentiert war. Seit den 1970er-Jahren nutzt sie die Fotografie, um Sprache und Stereotype der Medien zu dechiffrieren, wobei sie sie besonders die Repräsentation von Weiblichkeit, Erfolg und Glück unter die Lupe nimmt und kritisch-ironisch kommentiert.

So auch in ihrer Serie "Myths and Clichés", ihrer Antwort auf Frauenbilder in Massenmedien: Darin retuschierte sie ihr eigenes Bild in schnulzige italienische Foto-Romane der 70er-Jahre ("Bravo"-Foto-Love-Story-Leser wissen Bescheid) und warf sich zum Beispiel als Opfer einer unglücklichen Romanze in Pose, untertitelt von den kitschigen inneren Monologen der beliebten Groschenromane.

Heimliche Fantasien auf Fotos gebannt

Auch eine Entdeckung ist das Konvolut, das im Jahr 2004 zwei Antiquitätenhändlern in New York auf einem Flohmarkt in die Hände fiel und im Espace Van Gogh als "Casa Susanna" zu sehen ist: 340 Fotos aus den 50er- und 60er-Jahren von als Frauen gekleideten Männern, in denen diese sich als typisch amerikanische housewives inszenierten: Keine extravaganten Drag-Kostüme, sondern ein konservativer Girl-Next-Door-Look im geschützten Zuhause.

Dahinter steckte ein großes Netzwerk von Männern aus der amerikanischen Mittelschicht – Väter, Beamte, Ingenieure – Abziehbilder des amerikanischen Traums, der für sie, die nicht den Gender-Normen der Gesellschaft entsprachen, vielleicht eher ein Albtraum war. Susanna, Virginia, Doris, Fiona und ihre Freundinnen schufen eine kollektive Identität. Sie fotografierten sich bei Partys und unterm Weihnachtsbaum, vernetzten sich über ein Underground-Magazin, "Transvestia", und trafen sich regelmäßig im Haus von Susanna und ihrer Frau Marie im Umland von New York, versteckt in den Catskill Mountains. Auch wenn das Frauenbild, das sie in ihren Fotos inszenierten, aus feministischer Sicht heute längst überholt ist, legten sie mit ihrem Netzwerk einen Meilenstein für die LGBTQIA+-Geschichte in den USA. 

Die großen Stars der Sektion "From Film to Stills", mit denen das Festival wirbt, sind schnell erzählt und genauso schnell gesehen – Gregory Crewdsons opulent inszenierte Shots, die an Kinoszenen erinnern, sind etwas pathetisch geraten und machen deutlich, dass großes Format nicht unbedingt bessere Bilder produziert. Wim Wenders darf bei dem Thema natürlich nicht fehlen, doch auch seine Polaroids von Bruno Ganz und Dennis Hopper in jungen Jahren, die er 1976 wie ein fotografischen Skizzenbuch vor und während der Dreharbeiten zu "Der amerikanische Freund" sammelte, sind natürlich nett anzuschauen, aber eher Namedropping als große Ausstellung.

Das kulturelle Erbe der Bewohner und ihrer Traditionen steht auf der Kippe
 
Dagegen sind die Fotografien und Kontaktbögen von Agnes Varda zu ihrem allerersten Film, "La Pointe Courte" von 1954, gedreht im südfranzösischen Sète, wo die Künstlerin während des Zweiten Weltkriegs im Exil lebte, beeindruckend. Mit der Rolleiflex fotografierte sie Freunde, Nachbarn, Fischer, Matrosen und die karge Architektur des Arbeiterviertels – Schauplätze und Protagonisten ihres später entstehenden Films. Ihre Fotos sind keine Stills, sondern Skizzen und Konzeptstudien vor dem Film, starke Porträts und formalästhetische, fast abstrakte Zeichnungen von Holzstücken oder Schiffsdetails, die das außerordentliche Lebenswerk der damals 27-Jährigen vorausahnen lassen. Wer tiefer eintauchen möchte in den Kosmos Varda, kann das im Archiv des Kurators Hans Ulrich Obrist in der Luma Foundation tun.

In diesem Jahr hat das Festival sich besonders auch der Erkundung der Region und ihres Ökosystems verschrieben und künstlerische Expeditionen in die Camargue und industrielle Umgebungen unterstützt. Als Gewinnerinnen des BMW Art Makers Programm haben die in Paris lebende Künstlerin Eva Nielsen und die Kuratorin Marianne Derrien eine Recherchereise in die Camargue unternommen, ein einzigartiges Ökosystem für Vögel und andere in dem feuchten Sumpfgebiet lebende Tiere, das von Menschen für ihre Zwecke – Salzindustrie, Reisanbau sowie die Zucht von Stieren und Pferden im 19. Jahrhundert umgestaltet wurde.

In dem Projekt "Insolare" steht die Sonne als lebensnotwendige Ressource und Bedrohung gleichzeitig im Mittelpunkt. Die Region befindet sich durch Dürre und Wassermangel, aber auch die Gefahr von Überschwemmungen in einem prekären Zustand. Nicht nur der Lebensraum von Tieren und Pflanzen, sondern auch das kulturelle Erbe der Bewohner und ihrer Traditionen steht auf der Kippe. In der Installation aus mehreren sich überlagernden transparenten Ebenen, Fotografie, Malerei, Siebdruck und dem eigentlichen Raum entsteht ein vexierendes Bild, das von dieser Ambivalenz zeugt. Nielsen greift optische und hydrogeologische Phänomene auf und kombiniert sie mit der Insolation, einer Technik, die im Siebdruck verwendet wird.

Eben doch noch nicht alles gesehen

Wenn man nur zwei Dinge in Arles sehen kann, dann die retrospektiv angelegten Ausstellungen von Saul Leiter im Rahmen des Festivals und Diane Arbus in der Luma Foundation: zwei Fotokünstler, die zufällig im selben Jahr, 1928, geboren sind. Leiter, ein Klassiker der US-amerikanischen Street Photography der 50er-Jahre, hat neben seinen Streifzügen durch New York City täglich gemalt, seine kleinformatigen Bilder sind in der Ausstellungen neben den Fotografien präsentiert.

Mit einer sehr eigenen Herangehensweise an die Bildkomposition spielt Leiter mit Schatten und Unschärfe, mit Motiv und Ausschnitt. Monochrome Flächen von Markisen vor Cafés, der Wand neben einem Fenster oder unscharfe Vorhänge, hinter denen sich das eigentliche Motiv befindet, nehmen oft den größten Teil des Fotos ein – vorne und hinten, das, was was das Auge sieht und schnell übersieht, verschwimmen. Kombiniert mit den kleinen Malereien, in denen er die Verwendung von Farbflächen und Fragmenten zur Strukturierung eines Bildraums genauso einsetzt wie in seinen Fotografien, ist die Ausstellung eine wahre Freude. 

Eine Präsentation von Diane Arbus fällt schnell unter die Kategorie "alles schon gesehen", doch die Ausstellung in der Luma Foundation belehrt eines Besseren und zeigt eindrucksvoll, wie die Art der Präsentation die Wahrnehmung eines Werkes beeinflussen kann. Auf einer labyrinthisch angeordneten Konstruktion aus Metallgittern hängen im ganzen Raum ohne klare Ordnung über 450 schwarz gerahmte Fotografien als dreidimensionale, begehbare Petersburger Hängung: Die komplette Auflage aller Abzüge, die ihr ehemaliger Student Neil Selkirk angefertigt hat – der einzige Mensch, der nach ihrem Tod die Erlaubnis hatte, Abzüge von ihren Negativen zu machen. Ohne Labels, Texte oder sonstige ablenkende Ergänzungen zeigt die Ausstellung Arbus’ ikonische Porträts von Menschen am Rande der Gesellschaft neben Berühmtheiten der Kunstwelt: namenlose Kinder, Schausteller oder Passanten ebenbürtig neben Roy Lichtenstein, Mrs. Martin Luther King Jr. oder Susan Sontag.