Forum Expanded der Berlinale

Lichtzeichen, Atembeschwerden

Pallavi Paul "The Wind in Your Body Is Just Visiting, Your Breath Will Soon Be Thunder" (Filmstill)
© Pallavi Paul

Pallavi Paul "The Wind in Your Body Is Just Visiting, Your Breath Will Soon Be Thunder" (Filmstill)

Auch in diesem Jahr sucht die Berlinale mit dem Forum Expanded den Kontakt zur bildenden Kunst. Unter dem Motto "Closer to The Ground" überzeugt die 17. Ausgabe vor allem mit Filmkompilationen

Sie hat was, die Eingangssituation in der Betonhalle des Berliner Kunstortes Silent Green: mit ihrer Rampe, die unter die Erde führt und auf die Wand zuläuft, auf der die erste Projektion der Forum-Expanded-Ausstellung geheimnisvoll den dunklen Schlauch herauf leuchtet. Fällt sie in diesem Jahr so ins Auge, weil das Motto der 17. Ausgabe des Forum Expanded "Closer to the Ground" heißt? Doch kleiner Kalauer beiseite, gemeint ist damit natürlich keine räumliche, sondern eine epistemologische Bewegung. Hin zum genaueren Sehen, tieferen Graben nach den Fakten. 

Der Weg nach unten ist dann aber schon von ein paar Neonsignets erhellt. "Apollo" und "Lux" ist zu lesen und selbst wenn man weitere Namen in arabischer Schrift nicht entziffern kann, ganz offenkundig werden hier Kinos in aller Welt aufgerufen; Kinos allerdings, die, wie man erfährt, geschlossen, abgerissen oder umgebaut wurden. Dort, wo sie beheimatet waren, gastiert dann temporär "Das Kinoprojekt" (2021) von Siska, Elie Alexandre Habibs reisendes Kino, mit einem Archiv aus Videoarbeiten internationaler Künstler und Künstlerinnen, aber auch von Super-8- und 16-mm-Amateurfilmen.

Die Hommage an eine weltweit im Verschwinden begriffene Kinokultur manifestiert sich im Forum Expanded freilich nur als Menetekel an der Wand. Als Werbung für die Präsenz des Kinoprojekts in Berlin, im März im Autokino, mit einem Programm, das den Fokus auf Syrien, Libanon und Nordafrika hat.

Licht und Dunkelheit als Mittel polizeilicher Überwachung

Aus dem Libanon, aus Beirut, stammt auch Haig Aivazian, dessen Videoinstallation "All Of Your Stars Are But Dust On My Shoes" (2021) so verheißungsvoll am Ende des Tunnels erstrahlt. Die Bilder handeln tatsächlich von Licht – und von Politik. Schon der Ausschnitt, in den man reinstolpert, macht das klar. An Stromleitungen treten grelle, dramatische Lichtbögen auf und nachfolgend geraten die Strommasten ins Kippen und zu Boden gestürzt dienen sie als Barrikaden gegen die bewaffnete Staatsmacht.

Eine Luftaufnahme zeigt das nächtliche Lichtermeer der Städte des Libanon, Jordaniens und Israels, hinter dem sich eine auffällige große, dunkle Leere erstreckt: Syrien. Ins Bild kommt die Jagd auf den Wal, dessen Tran im 19. Jahrhundert die Städte der ganzen Welt erhellt hat. Die Walöl Lampen, sie spendeten das "liebliche Licht, das nicht für mich erstrahlt", wie Kapitän Ahab in Herman Melvilles "Moby-Dick" klagt. Für wen das Licht freundlich leuchtet und für wen nicht, davon handelt nicht nur die faszinierende Kompilation aus Found-Footage-Bildern und selbstgedrehten Smartphone-Videos; davon handelt auch der Protestsong, dem Haig Aivazian den Titel seiner Filminstallation entlehnt hat.

Die hier angesprochenen Sterne sind die auf den Epauletten der Polizei- und Militäruniformen, den Staub wirbelt die Untersuchung Künstlers und Direktors des Beirut Art Centers zur staatliche Regulierung von Licht und Dunkelheit als Mittel polizeilicher Überwachung auf.

Ein problematisches Handy

Gesichtserkennung braucht Licht, gleichgültig ob sie polizeilicher oder privater Natur ist. Wie sich dieser Sachverhalt in die Technologie in Afrika einschreibt, davon handelt die dreiteilige Videoinstallation "The Lighting" (2021) von Musquiqui Chihying. Ausgangspunkt war die Beobachtung des Künstlers, der in Taipeh und Berlin lebt, aber vornehmlich in Westafrika arbeitet, dass dort das Tecno, ein chinesisches Smartphone, absoluter Marktführer wurde. Er fragte sich, welches Feature das Tecno wohl unterschied von den großen Marken wie Huawei, Samsung oder Apple? Er kam dann darauf, dass es die Kamera war. Wie heute allgemein üblich mit drei Linsen ausgestattet, konnte sie dank ihrer Algorithmen mehr Licht auf die dunkle afrikanische Haut projizieren, die Gesichter stellten sich dadurch sehr viel plastischer und präziser dar – freilich auch mit hellerer Hautfarbe. Auch wenn nicht ideologisch intendiert, technologisch arbeitet das Tecno der problematischen Privilegierung der hellen Hautfarbe weiter zu. 

Den drei Kameralinsen ist auch der Aufbau der Installation geschuldet, die drei Narrative in je drei Sprachen – Kantonesisch, Mandarin und Französisch – parallel laufen lässt. Neben der Geschichte des Tecno-Rassismus geht es um die wenig bekannte Zusammenarbeit von chinesischen und taiwanesischen Unternehmen (die Algorithmen des Tecno programmierten taiwanesische Informatiker) und schließlich um Bruce Lee als Erzähler eines Kung-Fu-Films, den Musquiqui Chihying ganz bewusst auf Kodak Ektachrome drehte. Für den Farbabgleich in den Entwickler-Laboren stellte Kodak für dieses Filmmaterial die sogenannte Shirley Card zur Verfügung. Shirley hieß das Modell, dessen Hautton als Norm für die Hautfarbe gesetzt wurde, wodurch abweichende Hautfarben technologisch nicht nur ausgeklammert, sondern kaum mehr abbildbar waren. Obwohl nur 21 Minuten lang, ist "The Lighting" sicher eine der komplexesten Filminstallationen des Forum Expanded – sieht man von Pallavi Pauls Solo-Schau "The Wind in Your Body Is Just Visiting, Your Breath Will Soon Be Thunder" im Savvy Contemporary ab. 

Eine Geschichte vom Glück des Atmens … oder?

Die indische Künstlerin, die derzeit DAAD-Stipendiatin in Berlin ist, sucht in ihrer vielteiligen, aus Filmen, Zeichnungen, Leuchttafeln und Objekten bestehenden Installation die Geschichte des Atems und des Atmens dingfest zu machen. Atmen versteht sie als Synonym für das kollektive Aufbegehren gegen Polizeibrutalität, gegen Rassismus und gegen den Zusammenbruch der Versorgungssysteme, allen voran des Gesundheitssystems. In beeindruckend sparsamen Bildsequenzen zeigt die Künstlerin auf zwei sich gegenüberstehenden Leinwänden, wie in Indien an Corona erkrankte Menschen an Beatmungsmöglichkeiten leiden, die Toten finden keine Gräber auf den islamischen Friedhöfen finden oder es an Holz für die hinduistische Feuerbestattung mangelt. 

Atmen wird aber nicht nur be- oder gar verhindert, es wird auch gepflegt, trainiert, in rhythmischer, poetischer Sprache gepriesen  – auch davon handelt die Ausstellung, etwa mit den goldgestickten Meditationslaut auf dem Wandteppich, der in der Symmetrieachse  der beiden Leinwände hängt. Freilich führen die Recherchen oft in die Ambivalenz wie in der Leuchttafel zu Robert Koch deutlich wird. Der Mann, der sich als Entdecker des Tuberkulose-Erregers wirklich um die Wiedergewinnung des Atems verdient gemacht hatte, scheute auf seinen Forschungsaufenthalten in Afrika nicht davor zurück, Schlafkranke in qualvollen Experimenten zu behandeln. Mit zusätzlicher Luft und damit zusätzlicher Kraft und Freiheit, versorgte Bernard Samuels die Blasmusiker dank seiner Erfindung des Aerophors, dessen Einsatz Richard Strauss für "Eine Alpensinfonie" forderte. Eine Geschichte vom Glück des Atmens, wäre da nicht der nationalsozialistische Mord. Samuels und seine Familie fielen dem Holocaust zum Opfer. 

Im Untergrund des Savvy läuft dann die 42 Minuten lange Anklage gegen die systematische Polizeigewalt in Delhi, angefangen mit Filmmaterial aus der Zeit des nationalen Ausnahmezustands 1975-77 über die Pogrome an den Siks 1984 bis zu den hinduistischen Angriffen auf Muslime während des Delhi-Aufstands 2020. Der Verhaftungswelle in den 70er-Jahren fielen auch viel Kinder zum Opfer. Als sie aus dem Gefängnis entlassen wurden, wussten die meisten nicht, wo ihre Eltern wohnten. Eines der Kinder erinnerte sich daran, das ein alter, blinder Hase nahe dem Hause lebte. Herzzerreißend zu erfahren, dass viele von ihnen nie zurück  nach Hause fanden. Dass man dem vielschichtigen Bilderbogen aus altem dokumentarischen Filmmaterial, Bildern aus den sozialen Medien und vielen Interview gebannt folgt, liegt nicht nur an der inhaltlichen Brisanz, sondern auch seiner formalen Eleganz und, man muss es so sagen, den schönen Bildern inmitten des Schreckens. Dadurch kommt zur Sprache, was mit den bekannten Mitteln des Dokumentarfilms kaum darstellbar ist.