Berlinale als Ereignis

Sehen und Begehren

(Abgespeckter) roter Teppich bei der Berlinale 2022
Foto: Joerg Carstensen/dpa

(Abgespeckter) roter Teppich bei der Berlinale 2022

In einer vor On-Demand-Diensten überlaufenden Welt wirkt ein Filmfestival wie die Berlinale aus der Zeit gefallen. Trotzdem kämpfen immer noch eine Menge Menschen um die raren Tickets. Wieso eigentlich? 

 

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Dieser Text ist zuerst beim "Philosophie Magazin" erschienen
 

Noch bis zum Sonntag läuft Deutschlands bedeutendstes Filmfestival: die Berlinale. Für alle Film-Fans heißt das, Bandagen an und rein in den Kampf um die heißbegehrten Tickets. Galt es schon in den Jahren vor der Pandemie als sehr schwer, ohne Kontakte ein Ticket zu ergattern, stellt sich diese Herausforderung nach zwei trostlosen Jahren des Verzichts sowie des Umstands, dass die Kinosäle nur zu 50 Prozent ausgelastet werden, in diesem Jahr als schiere Unmöglichkeit dar. Doch was macht den Besuch der Berlinale eigentlich so besonders? Warum ist es so vielen Menschen offensichtlich so wichtig, die Filme im Rahmen eines Festivals zu sehen und nicht zu warten, bis sie im eigenen Lieblingskino oder bei Streamingdiensten gezeigt werden?

Ein Ereignis zeichnet sich philosophisch dadurch aus, dass es einzigartig, unvorhersehbar und unberechenbar ist. Ganz in diesem Sinn werden im Rahmen der Berlinale eine Vielzahl an Filmen gezeigt, die es jenseits des Festivals nicht in die deutschen Kinos schaffen und die deswegen nur in diesen zwei Wochen zu sehen sind. Besonders jenseits der Wettbewerbsfilme eröffnet sich für die Nicht-Cineastin in den Rubriken "Forum" und "Panorama" eine Kinowelt, die in ihrer Vielfältigkeit und Tiefe einen Abwechslungsreichtum bietet, der weit jenseits gewöhnlicher Filmerfahrungen liegt. Ganz im Gegensatz zu Walter Benjamins berühmter Bemerkung über das Kino, worin er den Film als reproduzierbares Konsumgut bezeichnet, verdreht sich hier die Bedeutung des Kinos für die Besucherinnen und Besucher. In einer von On-Demand-Diensten überlaufenden Welt, in der alles zu jeder Zeit und so oft man will verfügbar ist, offenbart sich beim Festival das Kino als eine Art Lichtmuseum, wo Filme gleich einer Performance in einer nicht einholbaren Einmaligkeit erscheinen.

Es ist die Begegnung mit dem Neuen und das damit verbundene Gefühl der Überraschung, das einen besonderen Reiz dieser Kinoerfahrung ausmacht. Während man heutzutage aufgrund der schieren Überfülle an angebotenen Filmen und Serien auf den Streamingplattformen vielleicht dazu neigt, sich im Trailerschauen und Kritikenlesen zu verlieren, um dann am Ende gar nichts zu sehen, lässt man sich hier gerne und voller Vertrauen in die Arbeit der Kuration und das Ungewisse fallen.

Nicht nur ein bloßer Selbstwert einer kapitalistischen Marktlogik

Die Filme des Forums und des Panorama dringen in die cineastische Nischen der Branche – ganz jenseits des dominierenden Mainstreams. Dementsprechend präsentiert sich das Neue hier weder als bloßer Selbstwert einer kapitalistischen Marktlogik noch als eine Wiederholung eines immer Gleichen im neuen Gewand, wie es Theodor W. Adorno dem Film in seinen Thesen über die Kulturindustrie immer wieder vorwirft. Vielmehr eröffnen die Filme und Dokumentationen Blickwinkel auf ungesehene Aspekte des gesellschaftlichen Lebens, machen Unsichtbares sichtbar und lassen die erzählten Geschichten den Zuschauern durch die immersive Kinoerfahrung unmittelbar ästhetisch nahekommen.

Doch was ist mit den Wettbewerbsfilmen? Wieso ist hier der Andrang so hoch? Ganz anders als die Spartenfilme genießen diese ja durchaus das Privileg auch nach der Berlinale noch gezeigt zu werden. Die Antwort auf diese Frage ist keine inhaltliche, sondern liegt im Eventcharakter des Festivals selbst begründet. Als solches nämlich verspricht sie den Kontakt zu den scheinbar unerreichbaren Stars. Sie holt die angehimmelten Schauspielerinnen und Schauspieler sowie Regisseurinnen und Regisseure aus ihrer Transzendenz direkt in die Kinosäle und bietet den Besucherinnen die Möglichkeit mit den Göttinnen der Leinwand in Kontakt zu kommen.

In diesem Sinne vermögen die Festivals etwas, das normalerweise Filmen unmöglich scheint: Sie durchbrechen die vierte Wand, die Bühne und Publikum voneinander trennt. Gewöhnlich stellt die Leinwand eine unüberbrückbare Kluft nicht nur zwischen Darstellenden und Publikum, sondern auch zwischen Fiktion und Realität dar. Die dadurch erzeugte Unerreichbarkeit potenziert die zum Teil obsessive Faszination für die Schauspieler und Schauspielerinnen.

Vom Durchbrechen der vierten Wand

Filmfestivals vermögen die als unüberwindbar geltende vierte Wand des Films zu durchbrechen und erzeugen dadurch für alle Normalsterblichen eine einzigartige Kinoerfahrung, die sich wohl mit Alain Badious Konzept des Ereignisses am besten fassen lässt. Für die Besucher und Besucherinnen entsteht eine Situation, die "[…] eine Möglichkeit erscheinen lässt, die unsichtbar oder sogar undenkbar war." (Die Philosophie und das Ereignis, 2012) Die Präsenz der Stars im Kinosaal verwandelt den Zuschauerraum zur Bühne und erzeugt ein Schauspiel im Schauspiel. Es lässt die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen und setzt die Zuschauerin im wahrsten Sinne des Wortes mit den Idolen auf eine Ebene.

Schon die reine Anwesenheit bei einem solchen Event wird somit als Auszeichnung empfunden und je größer und bekannter der Film und seine Stars, desto größer das Prestige, das sich aus dem Besuch für die Zuschauerin ergibt. Der Kinobesuch wird so zu einem Mittel, sich als Teil einer kleinen ausgewählten Schar zu fühlen und somit als unmittelbares Vehikel für soziale Anerkennung. Ganz nach dem Motto "sehen und gesehen werden" entsteht so ein Begehren, bei dem das soziale Event als solches im Fokus steht – gesetzt den Fall, dass man Tickets ergattern konnte