Depeche-Mode-Dokumentation

Die Geister, die sie riefen

Der Depeche-Mode-Dokumentarfilm "Spirits in the Forest" von Anton Corbijn ist mehr als ein Konzertmitschnitt. Er zeigt, wie Musik im Moment entsteht - aber erst im Bewusstsein der Fans ewig wird 

"This film should be played loud", diese Zeilen stellte Martin Scorsese seinem legendären Konzertfilm "The Last Waltz" voran, mit dem er 1978 den finalen Auftritt von The Band auf Zelluloid bannte. Doch selbst wenn man den Lautstärkeregler bis zum Anschlag dreht: Das Live-Erlebnis, das die Kinozuschauer in der Regel verpasst haben, lässt sich nicht hundertprozentig reaktivieren.

Dafür können Konzertfilme sich hinziehende Ereignisse verdichten, wie es bei Michael Wadleighs "Woodstock"-Film von 1970 der Fall war, oder einem Auftritt inszenatorisch den letzten Schliff geben, wie es Jonathan Demme beim Talking-Heads-Film "Stop Making Sense" (1984) gelang. Die besten Gigs sind womöglich die, die nie stattfanden, weil sie für maximales Kopfkino sorgen. "Michael Jackson’s This Is It", der bisher erfolgreichste Konzertfilm überhaupt, zeigt die Proben zu einer Tournee, die Jackson, im Juni 2009 verstorben, nicht mehr antreten konnte.

Nun bringt Anton Corbijn einen Dokumentarfilm ins Kino, die auf zwei tatsächlich gegebenen Konzerten von Depeche Mode im Juli 2018 in der Berliner Waldbühne basiert. Der Niederländer Corbijn wurde in den 70er-Jahren als Fotograf der Rock- und Popszene bekannt, 2007 stellte er dann mit "Control" die Filmbiografie des Joy-Division-Sängers Ian Curtis vor. Seither hat Corbijn zwei Polit-Thriller gedreht: "The American" (2012) und "A Most Wanted Man" (2014). Mit Depeche Mode ist der Fotograf und Filmemacher seit langem verbunden und hat die düstere Schwarz-Weiß-Ästhetik der Band entscheidend mitgeprägt. Er hat als Art Director für die britische Synthie-Pop-Gruppe gearbeitet, ihre meisten Musikvideos inszeniert und zwischen 1993 und 2014 bereits drei Depeche-Mode-Konzertfilme gedreht. "Spirits in the Forest" ist der vierte.

Ergriffen von den Geistern der Vergangenheit  

Mit den beiden Konzerten in der Waldbühne ging die "Global Spirit Tour" der Gruppe zuende. Mit Berlin ist Depeche Mode seit den 80ern verbunden, von Aufnahmen in den berühmten Hansa-Studios bis zu einem Konzert in Ost-Berlin – als eine der wenigen westlichen Bands, die überhaupt in der DDR auftreten durften. Man hat das Gefühl, dass in diesen Berliner Julinächten auch für Depeche Mode ein besonderes Flair in der Luft liegt, wobei Vergleiche mit früheren Stationen der Tournee natürlich nicht möglich sind. Sehr eindrucksvoll wirkt es, wenn Leadsänger Dave Gahan einmal nicht wild über die Bühne tanzt, sondern von der Rampe aus ergriffen die Fans betrachtet: Ein Meer von Armen schwingt rhythmisch zur Nummer "Never Let Me Down Again" hin und her. In diesem Moment spürt man, dass ohne Publikumsresonanz auf der Bühne gar nichts ginge. Wehe, wenn das Publikum die Performer hängen lässt.

Da ist es nur konsequent, dass Corbijn die Konzertszenen mit den Porträts von ausgewählten Fans der Gruppe verbindet. Noch bevor die ersten Depeche-Mode-Takte erklingen, haben diese sechs Menschen das Wort, die wir dann im Auditorium der Waldbühne wiedersehen. Der Film nimmt seinen Anfang in der Mongolei, wo eine junge Frau namens Indra von ihrem Alltag erzählt. Cristian, ein weiterer Fan, spricht in Bukarest über seine Depeche-Mode-Leidenschaft zu Zeiten der Ceaușescu-Diktatur. Der Kolumbianer Dicken schwärmt von seinen beiden Kindern, mit denen zusammen er Songs von Depeche Mode nachgesungen und Videos davon produziert hat. Im Rahmen des zweiten Waldbühnen-Konzerts am 25. Juli traten DMK (Depeche Mode Kids), wie sich die Familienband nennt, als Vorgruppe auf. Corbijn ließ seine Crew auch diesen Auftritt filmen, der es aber nicht in die finale Fassung schaffte.

Depeche Mode gegen Gedächtnisverlust

Liz aus Los Angeles erzählt vom Alltagsrassismus in den USA und davon, dass die Songs ihrer Lieblingsband sie in jeder Etappe ihres Lebens begleitet haben. Die Französin Carin verlor mit 25 das Gedächtnis und konnte sich fortan weder an ihre Eltern noch ihre Freunde erinnern – an Depeche-Mode-Songs aber erstaunlicherweise schon. Daniel stammt aus Brasilien, heute lebt er in Berlin und ist mit einem Mann verheiratet. Er erzählt, wie ihm die Musik und die queere Ästhetik von Dave Gahan, Martin Gore und Andy Fletcher beim Coming-Out halfen. Das sind die großen Geschichten vor der Bühne. Depeche Mode wird eine besonders hingebungsvolle Fan-Szene attestiert, die auch schon den Künstler Jeremy Deller zu einem Film inspiriert hat. Nicht nur in Songs wie "Personal Jesus" schwingt eine religiöse Ebene mit, auch die Band selbst wird wie Heilige verehrt. 

"Where's the revolution / Come on, people / You're letting me down" singt Dave Gahan in "Spirits in the Forest". Sein Fan Dicken findet: "Depeche Mode sind sehr politisch". Diesem Urteil muss man nicht folgen, doch auf jeden Fall demonstriert Anton Corbijns Film eindrücklich, wie Musik in unseren Alltag einzugreifen vermag, wie sie uns trägt und aufbaut, wenn wir am Boden sind. "Spirits in the Forest" zeigt beides – live und Life. Man versteht, wie Musik (im Idealfall des Konzerts) einerseits im Moment entsteht und wie sie andererseits weiterlebt und -wirkt. Im Bewusstsein der Hörer.