Ist es eigentlich pathetisch, zu fragen, was wahre Kunst ist? Als ich Daniel Spivakov zum ersten Mal treffe, nervt mich genau diese Frage. Venedig bei Nacht, April 2024. Die Hektik der Pre-Opening-Woche der 61. Kunstbiennale hat sich irgendwo in den verschlungenen Gassen, dem Lagunenwind und dem letzten Campari-Spritz einer überhypten Palazzo-Party verloren. Man wartet auf das Vaporetto, den venezianischen Wasserbus nach Hause. Unter einer zu grellen Laterne am Steg steht Daniel Spivakov. Sein kahl rasierter Kopf glänzt, seine Wangen glühen. Er trägt eine Sonnenbrille und einen knittrigen Leinenanzug. Gezwungen lässig, denke ich, wer soll das sein? Thomas Mann? Daniel Craig? Oder der Jetset-Sohn des Palazzo-Besitzers, auf dessen Party wir gerade waren? Seine Freundin, die Berliner Galeristin Lina Stallmann, stellt uns auf Englisch vor: "That's Daniel, he's an artist. A painter!"
Daniel Spivakov, der Maler. Ich bin skeptisch. Er mir gegenüber auch. Die ersten zehn der 50 Minuten Bootsfahrt ziehen ermüdend an uns vorbei wie das morbide Altstadtgemäuer der ewig im Meer versinkenden Stadt Venedig. Auf einmal fischt mich eine überraschende Wendung aus dem seichten Blabla: Meine ironisch gestellte Frage "Und was macht man als großer Maler so?" beantwortet Daniel unerwartet ernst. Bescheiden, aber mit Witz. Und mit der herausfordernden Einladung, ihn tags drauf in seinem Atelier zu besuchen: "Mach dir selbst einen Eindruck!"
Sein Atelier liegt auf der ehemaligen Gefangenen- und Judeninsel Giudecca. Da, wo Daniel unangekündigt das Boot verlässt und in einer dunklen Gasse verschwindet. Während das Narrenschiff mit uns Biennale-Berlinern weiter in Richtung Lido schwankt, bleibe ich in Gedanken an Daniel hängen. An der nervigen Frage: Wie kann ein Gegenwartskünstler sagen, dass es ihm um wahre Kunst geht, ohne pathetisch rüberzukommen?
Was Maler tun müssen
In Daniels Studio am nächsten Tag fällt mir die Antwort immer noch nicht ein. Aber seine Malereien machen wirklich einen Eindruck. Sie sind gigantisch und teils aus mehreren Leinwänden wild zusammengesetzt, schräg übereinander geschraubt. Oft sind die Leinwände digital bedruckt, im venezianischen Dachstuhlatelier stehen sie noch unbearbeitet im Eck: Fotoscans von Daniels gequetschtem Gesicht, vergrößerte Google-Bilder von antiken Vasen oder Kopien von Werken anderer Künstler wie Georg Baselitz oder Diego Velázquez.
Daniel Spivakov übermalt sie in neo-expressionistischen Gesten: Farb-drippings und nur grob angedeutete, sich auflösende Konturen von Gegenständen, Köpfen und Körpern. Ob die etwas bedeuten? "Das sind keine Symbole", sagt Daniel, der – ganz der lässige Maler – im farbbeklecksten Pyjama vor seinen Leinwänden steht. "Ich montiere Bilder, collagiere Farbe und Material zu Eindrücken. Zu Erfahrungen. Das ist es, was Maler tun müssen."
Ein Jahr später, während eines Gesprächs in einer Bar in Berlin-Schöneberg, geht es dem Künstler immer noch um dasselbe: malerisch Eindruck machen, Erfahrungen darstellen. Und um den inneren Zwang malen zu müssen. Unter den Nägeln klebt ihm natürlich ein Rest Ölfarbe. Wer sich jetzt aber einen getrieben genialischen Malerfürsten vorstellt (Baselitz, Velázquez), der irrt. Daniel Spivakov bleibt ruhig, wenn er über seinen künstlerischen Arbeitstrieb spricht. Wie jemand, der sich mit seinem Schicksal arrangiert hat – ein Verurteilter, der weiß, dass nur der Tod auf ihn wartet und daher umso entschlossener ist, sein Leben zu führen, auch wenn die Mauern um ihn eng stehen. Ist das diese wahre Kunst? Oder wieder nur benebelndes Pathos?
Katapulte in eine andere Welt
Was seine Kunst ist, kann er gar nicht genau sagen. Dabei flieht er nicht vor einer Antwort, er findet Metaphern dafür. So wie man das tut, wenn eine Erfahrung nicht in Worte passt. In seiner Malerei suche er nach einem "Fenster in eine andere Welt", sagt er dann, nach "einer Lücke", die für ihn durch Kompositionen entstehe, die "ein bisschen weird" sind. Also durch "Überraschungen", die einen aus der gewohnten Welt in eine magisch abgehobene und neue katapultieren. Die der Malerei. Daniel geht es nicht um das entschlüsselnde Anschauen eines Bildes. Nicht um Diskurs. Es geht ihm um dieses Im-Bild-sein, das zwingend immersiv ist, weil etwas, das man im gemalten Bild sieht, neu, unkonventionell und lebendig ist. Deshalb auch die körpergroßen Leinwände.
Daniels Kunst tickt ähnlich, wie sein Sprechen darüber, als ständiges Suchen nach Metaphern. Nach Bildern, in die diese Erfahrung des Neuen reinpasst und herausspricht. Oder wie Daniel selbst sagt: "Es ist wie die Suche nach neuen Wegen oder work-arounds, um immer wieder sagen zu können: Ich liebe dich!" Zur Malerei, zu ihrer Geschichte, zu seiner Freundin und Galeristin Lina oder zu dem, "was es für einen selbst bedeutet, jetzt, in dieser Gegenwart zu leben."
Trotzdem greift Daniel oft auf Zitate älterer, etwas abgestandener Künstler zurück, um seine eigene Kunst verständlich zu machen. In Reihenfolge ihrer Häufigkeit: Der Maler und Regisseur Julian Schnabel, von dem er persönlich viele Tipps bekommen hat. Der Sänger Bob Dylan, der Comedian Jerry Seinfeld und – als einer der wenigen Nicht-Juden – Seth Price, eines der rätselhaftesten Gesamtkunstwerke der letzten 25 Jahre.
Und? Alles betriebsübliches name dropping? Noch dazu von großen, männlichen Meistern? Nein. Auch diese Zitate sind nur Metaphern. Für das, was Kunst sein soll. Das erkennt man, wenn Daniel über seine Liebe für den jüdisch-ukrainischen Schriftsteller Isaak Babel spricht. In "Geschichten aus Odessa" beispielsweise, so sagt Daniel, erzähle Babel von Pogromen, "er beschreibt sie aber nicht, er gibt uns nur einen subjektiven Eindruck davon, unerwartet witzig, ja, total obszön und deshalb voller Verletzlichkeit und Horror." Daniel schließt daraus, dass in der Kunst, wie in der Literatur, alles radikal persönlich sein muss. Damit etwas auf dem Spiel steht, der Künstler sich und das Leben in seiner abgründigen Verletzlichkeit erfahrbar machen kann.
Bildverbot und Messianismus
Daniel kennt das Leben abgründig und fragil. Er ist aus der Ukraine und Jude. Wie Isaak Babel, nur aus Kyiv. Das heißt, geboren wurde Daniel 1996 in Mechernich, einem kleinen Dorf in der Eifel. Aber seine Eltern – post-sowjetische Kontingentflüchtlinge – hielten es in Deutschland nicht lange aus und kehrten zurück in die Ukraine. Sein Vater sei "ein kleiner Gangster" gewesen, erzählt Daniel belustigt, aber respektvoll. Zu einer evangelikalen Sekte sei er konvertiert. Wie einige Juden aus der ehemaligen Sowjetunion wuchs Daniel also ohne viel Wissen über seine Jüdischkeit auf. Was sie heute für ihn bedeutet? Die eher lakonisch gestellte Frage: "Warum hassen sie uns Juden eigentlich?". Und: eine "negative Theologie", die bloß darstellen kann, was Gott nicht ist und ihn aus diesem Grund immer weitersuchen muss. Bilderverbot und Messianismus. Zwei weitere Metaphern für Daniels Kunst? Nein, eher ihr Antrieb.
Zur Kunst kommt Daniel über Umwege. Von zu Hause haut er zunächst auf eine Militärschule ab, dort erlebt er viel Gewalt. Dank einer evangelikalen Charity kann er in die USA fliehen – nach Oklahoma. Daniel, der Jude aus Kyiv, wird zum reformchristlichen All-American farm boy. Er macht seinen Highschool-Abschluss, kommt im lokalen College jungfräulich mit zeitgenössischer Kunst in Kontakt und beschließt: "Ich will auch contemporary artist werden!" Dafür zieht er zurück nach Kyiv, mietet sich ein Atelier, macht kleine Shows, scheitert. Er bewirbt sich an der renommierten Kunstuniversität Central St. Martins in London, wird angenommen, lernt im Seminar seine Freundin und Galeristin Lina kennen und beide ziehen widerwillig ins kunstsatte Berlin. Und seitdem?
Daniels Karriere bleibt die eines Außenseiters – aber nicht ohne Erfolg. Anders als viele Künstlerinnen und Künstler seines Alters steckt er nicht in Stipendien oder residencies und ist kein Teil von Schlagwortausstellungen staatlich geförderter Projekträume. Vom Betrieb, den "Mittelsmännern und Kuratoren", halte er sich grundsätzlich fern, sagt Daniel. Das lenke nur ab. Sein Credo: immer ein Schlupfloch zu den decision-makers finden, den direkten Draht nach oben. In seinem Fall war das der Multimilliardär und Kunstsammler François Pinault. Der kaufte 2023 mehrere von Daniels Arbeiten für seine weltbekannte Sammlung, stellte sie in der von Matthieu Humery kuratierten Ausstellung "Chronorama Redux" im Palazzo Grassi in Venedig aus.
Die Ausstellung tourte zur Helmut Newton Foundation nach Berlin, Daniel blieb bis Ende 2024 in seinem Dachstuhlatelier auf Giudecca. Dann kehrte er nach Berlin zurück. Im Sommer zieht er auf Einladung der Galerie L'Atlas in ein neues Studio nach Paris. Wenn Daniel von Erfolgen wie diesen erzählt, tut er es zögerlich. Dann sagt er hinterher: "Naaah, das klingt prätentiös". Oder er zitiert wieder Comedian Jerry Seinfeld. Der soll mal gesagt haben, dass er auch ohne millionenschwere Serienhits sein Ding durchgezogen hätte. Einfach, weil er nicht anders könne. Daniel nennt diese Haltung "mönchisch". Nur Kunstmachen sei das, was zählt. Diese göttliche Freiheit, die er fühle, wenn er malt – wenn er sich aus der eigenen Apathie löse, um vor der Leinwand selbst zum decision-maker zu werden. Er sagt das unironisch, aber es klingt nicht drüber oder verkehrt. Nur warum nicht?
Unsere psychotische Gegenwart
Berlin, Anfang Juni 2025. Daniel sitzt in einem Klappstuhl aus Holz, der passenderweise einem Thron nachempfunden ist. Wir sind in den ehemaligen Räumen der Berliner Galerie KOW, zwei Stockwerke persilweiß verputzte Manufakturhallen. Daniel hat hier gerade sein Studio, der Vermieter stellt es ihm als Zwischennutzung zur Verfügung – dem direkten Draht sei Dank. Daniel mustert seine jüngste Bilderserie. Die wandhohen Leinwände sind geometrisch angeordnet, anders als in Venedig schlagen sie sich nicht mehr chaotisch übereinander. Auf den ersten Blick wirken sie monumental, wie Pforten zu antiken Tempeln oder zu solchen, die nach deren Vorbild gebaut sind, wie das Weiße Haus in Washington.
Auf den zweiten Blick aber irritiert das Arrangement, der weirde Abstand, in dem die vertikalen Leinwände, wie aus der Balance geratene Säulen nebeneinanderstehen. Die Monumentalität droht jeden Moment unter der eigenen Last zu zerbrechen – das ist Daniels Lücke. Der malerische Eindruck, der darin aufscheint: zart und melancholisch. Und: ein Bild der USA der Gegenwart. Denn unter den explosiven Farbspritzern und den dünnhäutigen Ölschlieren auf der Leinwand schimmert das Fotonegativ einer zerfledderten US-Flagge durch.
"Midnight Political Blues", das ist der Titel der Ausstellung, in der Daniel diese Serie ein paar Tage später als Werkschau in seinem Studio zeigt. Hinter einer Stahltreppe hängen drei kleinformatige Leinwände. Auf ihnen drei Varianten eines bartlosen Adolf Hitler, der gerade mit geschlossenen Augen verstörend friedlich meditiert. Eingehüllt ist diese Ikone in einen gelblichen Farbäther, der den Anschein erweckt, Hitler, der Stereotyp kollektiv-verbrecherischer Vergangenheit, erträume eingeschlossen in seinem Bernsteinzimmer unsere psychotische Gegenwart.
Im Westen was Neues
"Mache ich jetzt politische Kunst?", fragt Daniel und grinst. Die Antwort kann nur lauten: Nein. Zumindest nicht als Heilsversprechen, wie es in der Gegenwartskunst der letzten Jahre populär geworden ist. Daniels Malerei ist nicht die Propaganda einer Idee oder ein kunstvermittelter Diskursbeitrag. Seine Bilder sind wahre Kunst – ja, ganz ernsthaft. Und damit Gegenwartskunst im klassischen Sinn: ein unverstellter Zugang zu diesem diffuser werdenden Gefühl, in der Gegenwart zu leben.
Aber warum werde ich dann diesen Widerstand in mir nicht los? "Wahre Kunst", ernsthaft?! Stecke ich in der Konvention meines post-postmodernen Kunstbegriffs fest? Hänge ich an dessen heros, die angesichts des leviathanischen Terrorspektakels unserer Gegenwart immer zahnloser werden?
Kurz bevor ich Daniels Studio verlasse, frage ich ihn, was er von diesem vibe shift halte, über den seit Trumps Wiederwahl andauernd gesprochen wird? "Für euch im Westen ist der was Neues", antwortet er, "für mich als Ukrainer nicht". Und dann sagt Daniel den einen Satz, der alle meine Zweifel klärt: "Ich lebe schon länger in dieser neuen Gegenwart als du."