Die Geschichte der Konzertina

Der Sachse, der das Feuer erfand

Chemnitz als Wiege des Tangos? Auch wenn es den Sachsen an Feuer sicher nicht mangelt – das klingt doch eher nach einem Märchen aus der Stadt-PR. Wer einen Blick in die Geschichtsbücher wirft, stellt aber überrascht fest: Dieses Märchen ist wahr

Zugegeben: Bilder von verruchten Hafenspelunken in La Boca, von knisternder Erotik, enttäuschter Liebe und Heimweh ruft der Name Carl Friedrich Uhlig nun wirklich nicht auf den Plan. Tatsächlich hat besagter Herr, um den es in dieser Geschichte gehen wird, auch niemals Tango getanzt oder auch nur musikalisch begleitet. Denn zu Uhligs Lebzeiten – er wurde 1789 in Bernsdorf bei Chemnitz geboren und starb 1874 – gab es den Tanz noch gar nicht. Somit muss man schon jetzt konstatieren: Uhlig ist eigentlich gar nicht sexy.

Nichtsdestotrotz sind sich Mathis Stendike und Thu Trang Sauer von der Carl Friedrich Tango Connection, die Chemnitzer Stadtführerin Edeltraud Höfer, Franz Wagner-Streuber von der Sächsischen Mozart-Gesellschaft, Jürgen Karthe, Bandoneonlehrer in der Chemnitzer Musikschule und Orchesterleiter des größten Tangoorchesters Europas, sowie Peer Ehmke vom Schloßbergmuseum Chemnitz einig: "Ohne Uhlig kein Tango!" Ihr Ziel: Sie wollen den vergessenen Sohn der Stadt zurück ins Rampenlicht holen und "Chemnitz ein Stück seiner Vergangenheit zurückgeben", so Wagner-Streuber.

Und das ist gar nicht so einfach: "Vieles aus seinem Leben ist mittlerweile in Vergessenheit geraten", sagt Höfer, die aktuell zu Uhlig forscht. Bekannt ist, dass der junge Carl Friedrich zunächst eine Lehre als Strumpfwirker abschloss und wohl auch Strümpfe produzierte, bis er der familiären Zunft überdrüssig wurde und sich beruflich seiner Leidenschaft zuwandte: Ungefähr ab dem 30. Lebensjahr arbeitete Uhlig, der als Soloklarinettist in einem Chemnitzer Orchester spielte, als Musikalienhändler und Instrumentenbauer. "Er wird sich wohl in Wiener Harmonikawerkstätten und auch beim Akkordeonerfinder Cyrill Demian umgeschaut und dieses Wissen mitgebracht haben", so die Stadtführerin Höfer.

Ein kleiner Kasten voller Musik

Die Gewissheit der Chemnitzer Uhlig-Freunde, dass an einer Renaissance seiner Person nichts vorbeiführt, liegt in Uhligs wichtigster Erfindung begründet: einem kleinen Kasten, den das ungeübte Auge als ein klobiges Akkordeon missdeuten mag, der Experte aber als ein eigenständiges Handzuginstrument aus der Familie der Harmonikas erkennt: die Konzertina. Nur: Konzertina hieß das Instrument noch gar nicht, als "Harmonika-Fabrikant" Uhlig seine neueste Erfindung 1834 im "Chemnitzer Anzeiger" als "Accordion neuer Art" bewarb. Bereits ein Jahr später begann die Produktion in größerem Stil. Das anfängliche Fehlen eines eigenständigen Produktnamens sollte in der Folgezeit jedoch für allerlei Begriffsdurcheinander sorgen.

 

Der Instrumentenbauer Carl Friedrich Uhlig vor einem Harmonium
Foto: Zur Verfügung gestellt vom Schloßbergmuseum Chemnitz

Der Instrumentenbauer Carl Friedrich Uhlig vor einem Harmonium

Zehn Jahre nach Uhligs "Accordion neuer Art" ließ sich nämlich der englische Physiker und Instrumentenbauer Charles Wheatstone eine von ihm entworfene Ziehharmonika-Variante als "Konzertina" patentieren, nachdem er bereits 1829 einen Vorläufer entwickelt hatte. Diese Bezeichnung gefiel Uhlig offenbar so gut, dass er sie ab 1851 selbst für sein Produkt nutzte. Zur besseren Unterscheidung der beiden Varianten spricht man heute von der Chemnitzer beziehungsweise Deutschen Konzertina und von der Englischen Konzertina.

Worin aber lag dann das Neue an Uhligs Erfindung? "Das Grundprinzip ist dasselbe wie bei jedem Handzugins­trument", erklärt der passionierte Bandoneonspieler Jürgen Karthe. "Mittels eines Balges wird Luft durch Metallzungen gepresst, sodass diese zum Schwingen kommen und dabei einen Ton erzeugen." Anders als beim Akkordeon und bei der Englischen Konzertina erzeugt die Chemnitzer Bauart beim Zusammendrücken und Auseinanderziehen des Balgs aber unterschiedliche Töne, gehört damit also zu den wechseltönigen Instrumenten. "Damit war der Spieler nicht so festgelegt und konnte sich jede Harmonie einzeln zusammensuchen", so Karthe. "Dieses Prinzip steht dem Klavier übrigens viel näher als dem Akkordeon."

Wer hat's erfunden?

Uhligs Ur-Konzertina besaß zunächst nur fünf Knopftasten an jeder Seite, mit denen ihr immerhin schon 20 Töne entlockt werden konnten. Damit aber auch Menschen ohne Notenkenntnis das Instrument zu spielen vermochten, versah Uhlig diese Knöpfe mit Zahlen, nach denen vom Blatt gespielt wurde. Das machte die Konzertina gemeinsam mit ihrem günstigen Kaufpreis, der transportablen Größe und ihrer Lautstärke besonders in der Arbeiterschaft und unter Bergleuten beliebt: Bereits 1874 gründete sich der erste Konzertina-Verein in Chemnitz.

Zum Repertoire gehörten vor allem Volksmusik und Gassenhauer – also Märsche, Walzer und Polka. "Sie dürfen sich das aber nicht als Alte-Herren-Musik vorstellen", sagt Museumsmann Peer Ehmke, der 2001 eine Konzertina-Ausstellung kuratierte. "Polka war damals Jugendkultur, mit dem Punk der 1980er-Jahre vergleichbar!" Gespielt wurde vornehmlich in Bierzelten und Kneipen, an Straßenecken und bei Familienfeiern – übrigens nicht wie oft beim Akkordeon stehend, sondern sitzend übers Knie gelegt. Da es zu dieser Zeit in Deutschland noch kein Patentrecht gab, bauten bald andere Fabrikanten Uhligs Knopfkasten nach und entwickelten ihn dabei stetig weiter, darunter Stiefsohn Christian Friedrich Reichel und Schwiegersohn Friedrich Anton Lange. Letzterer übernahm 1863 den Betrieb von Uhlig, der elf Jahre später im Alter von 85 Jahren verstarb. 

Plattencover des Orchestre Argentin aus den 1930er-Jahren
Foto: Zur Verfügung gestellt vom Schloßbergmuseum Chemnitz

Plattencover des Orchestre Argentin aus den 1930er-Jahren

Mit der Zeit entstanden so immer ausgereiftere Bauformen mit immer mehr Knöpfen und Tönen – in Carlsfeld oder dem sächsischen Musikwinkel zum Beispiel, aber auch in Krefeld, wo ein Instrumentenhändler namens Heinrich Band lebte. Dieser war in Sachen Marketing deutlich gewiefter als sein Chemnitzer Kollege und bezeichnete die von ihm vertriebene (und ggf. entworfene) Konzertina-Variante einfach nach sich selbst: Bandonion (heute übliche Schreibweise: Bandoneon). 

Der Klang der Konzertina

Unter diesem Namen ging die Konzertina nun auf große Reise. Angelockt vom Versprechen auf eine bessere Welt, waren ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neben Italienern und Spaniern auch zahlreiche Deutsche nach Argentinien ausgewandert. Für den Großteil der Auswanderer endete der Traum allerdings schon in den ärmlichen Hafenvierteln und Bordellen am Río de la Plata. Um ihrer Sehnsucht nach der alten Heimat Ausdruck zu verleihen, entstand in diesem Schmelztiegel eine neue, feurige Musik: der Tango. Und das Bandoneon – mitgereist im Gepäck der deutschen Auswanderer – wurde mit seinem unverwechselbar "traurigen, samtenen Klang", wie es Tango-Virtuose Astor Piazzolla einst beschrieb, zu seinem zentralen Instrument. 

In ihrem Heimatland befand sich die Konzertina (bzw. das Bandoneon) zunächst auf einem ähnlichen Siegeszug: Zur Blütezeit 1927 meldete der "Deutsche Konzertina- und Bandonion-Bund" rund 1000 Vereine und über 14.000 Einzelmitgliedschaften deutschlandweit. Mit der Gleichschaltung des Vereinswesens durch die NSDAP bekam dieser Aufwärtstrend jedoch erste Risse. "Leute, die den Nationalsozialisten politisch nicht genehm waren, wurden aus den Vereinen gedrängt", weiß Ehmke vom Schloßbergmuseum Chemnitz. "Und viele weitere Vereinsmitglieder starben im Zweiten Weltkrieg an der Front." Gleichzeitig brach die Produktion der Instrumente vollends zusammen und sollte auch nach Kriegsende nie wieder Fahrt aufnehmen: Sowohl in der BRD als auch in der DDR, wo die Produktionsstätten verstaatlicht wurden, setzte man nun auf die Herstellung von Akkordeons.

Der eigentliche Todesstoß für die Instrumente liegt aber ganz woanders. "Nach dem Krieg brach einfach eine völlig andere Zeit an. Bandoneons und Konzertinas waren nicht mehr schick; die Jugend hörte nun Beatmusik, tanzte Swing und wollte E‑Gitarre spielen", resümiert Ehmke. "Mit der breiten Verfügbarkeit von Tonkonserven wie der Schallplatte sank ­außerdem der Bedarf an Livemusik." Und in Chemnitz? Von ehemals über 20 Konzertina-Vereinen blieben nach dem Krieg nur zwei übrig. Diese schlossen sich 1964 zum "Konzertina & Bandonion - Orchester 1890 Chemnitz" zusammen und spielten immerhin bis Anfang der 2010er-Jahre Volksmusik auf regionalen Festen.

Tango für ein neues Zeitalter

So hätte diese Geschichte beinahe ein trauriges Ende gefunden, wäre das Bandoneon nicht dank einer großen Tango-Renaissancewelle in den 1990ern auch zurück nach Chemnitz geschwappt – ins legendäre Chemnitzer Kulturzentrum VOXXX zum Beispiel, wo zu Techno und Tango getanzt wurde. 2014 organisierte die Sächsische MozartGesellschaft gar ein Tangofestival unter dem großen Marx-Kopf – und selbst für den Nachwuchs wird mittlerweile gesorgt: An der Chemnitzer Musikschule lernen derzeit zehn Schüler zwischen 7 und 80 Jahren bei Karthe das Bandoneonspiel.

Die Bandoneon-Spielerin Nina Alexia
Foto: Zur Verfügung gestellt vom Schloßbergmuseum Chemnitz

Die Bandoneon-Spielerin Nina Alexia

Mit den Hochzeiten der Vergangenheit lässt sich diese Situation freilich nicht vergleichen – und so bleibt das Wissen um die Herkunft des wichtigsten Instruments für den feurigen Tango einem kleinen Kreis von Kennern vorbehalten. "Ich habe das Bandoneon immer nur mit Tango und Argentinien verbunden", gesteht auch Sauer, die erst im Rahmen der Bewerbung zur Kulturhauptstadt von seinem sächsischen Ursprung erfahren hat. Um dieses Wissen zurück im Chemnitzer Stadtgedächtnis zu verankern, träumt Wagner-Streuber von der Sächsischen Mozart-Gesellschaft von einem Denkmal zu Ehren Uhligs und seiner Erfindung: "So machen wir Geschichte wieder be-greif-bar: Wenn die Knöpfe der Konzertina irgendwann golden schimmern, weil so viele Hände sie berührt haben…" Die Stadtführerin Edeltraud Höfer hat auch schon einen passenden Ort im Blick: "Am besten in der Nähe des großen Marx-Kopfes, in dieser Ecke stand nämlich die Fabrik, in der die ersten Konzertinas gefertigt wurden."

Allerdings, und das bedeutet Wagner-Streuber ganz viel: "Wir wollen die Konzertina nicht allein als historische Reliquie auf einem Sockel anbeten!" Auch Mathis Stendike von der Tango Connection hält nichts davon, das Ins­trument zu musealisieren. "Carl Friedrich war offen, neue Dinge auszuprobieren – das wollen wir in unsere Musik übersetzen. Gemeinsam mit der Berliner Bandoneonspielerin Bettina Hartl suchen wir den Tango auch an ungewöhnlichen Stellen, zum Beispiel in der Barockmusik und in Kombination mit elektronischen Sounds." Eine alte Uhlig-Konzertina haben sich die drei trotzdem besorgt. Auf ihren Konzerten steht sie nun in einem kleinen, von einer einzelnen Kerze beleuchteten Schrein – in Gedenken an jenen Erfinder, den die Welt fast vergessen hätte.