Nachlese zur Documenta Fifteen

Wie ein Skandal die Unterschiede zwischen Politik und Kunst erhellte

Verhülltes Taring-Padi-Banner im Juni 2022, Documenta Fifteen, Kassel
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Das Fanal von Kassel: Verhülltes Taring-Padi-Banner im Juni 2022, Documenta Fifteen

In der Politik wird die Documenta Fifteen mit ihrem Antisemitismus-Eklat völlig anders bewertet als in der Kunstwelt - und beide Seiten werfen sich Ignoranz vor. Zur Erklärung dieser Diskrepanz kann die Systemtheorie helfen, meint unser Gastautor

Nie zuvor hatte eine Edition der Documenta-Ausstellungen eine derart breitgestreute Aufmerksamkeit in der deutschsprachigen Medienöffentlichkeit gefunden wie bei der Documenta Fifteen 2022. In den rund 90 Tagen nach dem Eklat über antisemitisch intendierte Figuren auf einem indonesischen Banner der Gruppe Taring Padi veröffentlichten die überregionalen Tages- und Wochenzeitungen im Schnitt jeden zweiten Tag einen Artikel über diesen, und über drei andere Fälle von Werken unter Antisemitismus-Verdacht. Die Kunst selbst wurde dabei oft als minderwertig, zwischen "Dritte-Welt-Kitsch" und Agitprop, eingeschätzt. 

Dagegen waren und sind die Einschätzungen der Documenta Fifteen in der Kunstwelt zum großen Teil positiv. Beispielsweise nannte Margareta Tsomou, Kuratorin am HAU in Berlin, das Konzept der Macher einen "großen Wurf". Im Abschlussbericht des wissenschaftlichen Fachgremiums der Documenta, dem die Dresdner Museumschefin und designierte Präsidentin der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Marion Ackermann angehörte, wurde hervorgehoben, "dass Ansätze, die seit vielen Jahren im europäischen und internationalen Kunstbetrieb diskutiert und erprobt werden, bei der Documenta Fifteen in mutiger Konsequenz umgesetzt worden sind … Die Vernetzungsstrategie führte zu einer beeindruckenden Komplexität und Vielstimmigkeit." 

In "Artforum", einem international führenden Kunstjournal, war die Rede von "mesmerizing energy", und von einer gelungenen kuratorischen Aufforderung an die Betrachtenden, selbst zwischen verschiedenen Realitäten, Sprachen und Orten zu übersetzen. Die Frage nach der Berechtigung der Antisemitismus-Vorwürfe blieb in diesen Würdigungen eine Marginalie.

Die Mitspielenden sind wir alle

Wie kam es zu dieser Diskrepanz? Waren die politischen Stimmen ignorant, oder die Stimmen aus der Kunstwelt menschenverachtend? Eine Antwort auf solche Fragen könnte mit Blick auf die ganze Gesellschaft ansetzen. Unsere moderne, industrialisierte und inzwischen weitgehend digitalisierte Gesellschaft verdankt ihre unglaubliche Komplexität einer Aufspaltung der internen Verständigung in große, über Jahrhunderte entwickelte "Gesellschaftswertspiele". In diesen Wertspielen geht es für die Mitspielenden – und das sind wir alle – um unterschiedlich Wertvolles, je nachdem, welches Problem im menschlichen Zusammenleben zu bewältigen ist. 

In ausgefeilten Spielverläufen werden einerseits Lösungen für Probleme in dem Teil der Welt gefunden, der unseren Sinnen zugänglich ist: welche Spieler haben die Macht, wer ist im Recht, wer darf reich sein, und wer beweist, was wahr ist? Im Streit um die jeweils gültigen Antworten sind in jedem der Wertspiele spezialisierte Verständigungsmittel entstanden: Wahlverfahren, Gerichtsurteile, Wertpapiere und Laborexperimente sind Beispiele dafür. 

Anderseits werden auch Lösungen gefunden für ständig neue Probleme in dem Teil der Welt, der unseren Sinnen unzugänglich ist: im spirituellen Raum, im Innenleben der Kommunikationspartner, im eigenen Denken, und schließlich in den Darstellungen und Darbietungen, die wir als Kunstwerke betrachten.

Aktivistische Kunst will die Spiele stören

"Man wird durch Kunst angeleitet, sich selbst als Beobachter zu beobachten" – so hat das Niklas Luhmann formuliert. Kunstwerke, die mit visuellen Mitteln gestaltet sind – und nur um diese Variante geht es hier -, blieben bis in das vergangene Jahrhundert darauf beschränkt, die äußere Welt in einer Weise abzubilden, die gemeinsam erlebt wird und in der wir, die Betrachtenden, uns selbst wiedererkennen. Inzwischen sind die Mittel der Kunst selbst zum Gegenstand der Darstellung geworden – die Farben, die Materialien, selbst die Konzepte. 

Gleichzeitig mit dieser Bewegung der Selbstüberbietung durch immer subtilere Varianten "autonomer" Kunstwerke ist aber im globalen Kunstspiel eine Gegenbewegung entstanden, in der die Kunstschaffenden bei ihren Werken auf einfache, leicht verständliche visuelle Mittel zurückgreifen, um damit gesellschaftliche Verhältnisse zum Gegenstand der Darstellung, der Selbstbeobachtung und schließlich des Engagements zu machen. 

Aktivistische Kunst will die Kommunikation anderer Gesellschaftswertspiele stören, die Grenze zwischen künstlerischer Fiktion und Eingriff in das Politik- oder Wirtschaftsspiel wird dabei überschritten. Außerdem gerät das netzwerkartige Geflecht kreativer Prozesse in den Fokus der Betrachtenden, wenn Kunstwerke nicht mehr von Künstlerindividuen und ihren Werkstätten, sondern kollaborativ, also in einer Öffentlichkeit, geschaffen und kuratiert werden.

Der Aufprall auf das deutsche politische Spiel

Den Auftrag, eine Documenta mit diesen im Kunstspiel aktuellen Themen zu bespielen, erhielt Ruangrupa, ein Künstlerkollektiv, das sich in der Punkszene von Jakarta gebildet hatte. Diese Entscheidung adressierte eine weitere, zur Zeit heiß umkämpfte Dimension gesellschaftlicher Verhältnisse. Das javanische Kuratorenteam hatte seinen Stil in einer Gesellschaft entwickelt, die Jahrhunderte lang von Kolonisatoren beherrscht war, und die gerade 30 Jahre Militärdiktatur hinter sich hatte. 

Deshalb boten die Kuratoren Taring Padi, einer befreundeten Gruppe klassenkämpferischer Kunststudentinnen und -studenten, die Möglichkeit, viele ihrer aktivistischen Kunstwerke, die sie im Kampf mit und nach dem Ende von Suhartos Diktatur produziert hatten, in einem ehemaligen Hallenbad auszubreiten. Außerdem wollten sie am zentralen Ort der Ausstellung auf dem Friedrichsplatz in Kassel einen Demonstrationszug inszenieren, der den Zuschauern einen Eindruck von den Straßenevents verschaffen sollte, die das Kollektiv vor 20 Jahren in Yogyakarta organisiert hatte. Dazu kam es aber nicht. Tage davor erfolgte der Aufprall auf das deutsche politische Spiel.

In diesem geht es um das Durchsetzen kollektiv bindender Entscheidungen. Um dabei auf Gewalt zu verzichten, sind in diesem Spiel kommunikative Formen entwickelt worden, die durch Wahlen den Mehrheitswillen eines Gemeinwesens umsetzen in die Herrschaft über den Staatsapparat. Gleichzeitig werden die Entscheidungen der so installierten Regierung ständig bewertet und in Frage gestellt; von kritischen Stimmen in der politischen Öffentlichkeit, etwa von Pressemedien, Kirchen, Verbänden und anderen Regierungen.

Ruangrupa von Anfang an im Fokus

Im vergangenen Jahrhundert sind in vielen Ländern Grenzen des politischen Eingriffs in die politikfremden Gesellschaftswertspiele durchgesetzt worden. Auch in Deutschland hat inzwischen die Eigenständigkeit von Recht, Religion, Wissenschaft, Familie und Kunst Verfassungsrang. Gleichwohl sieht sich politische Herrschaft legitimiert, in alle Wertspiele einzugreifen, wenn es darum geht, die gesellschaftlich älteren, fundamentalen Werte der Moral und der Menschenwürde zu verteidigen.

Eines der strittigen Themen im laufenden deutschen politischen Spiel ist die Grenze zwischen Israelkritik und Judenfeindlichkeit. Israelkritik, die judenfeindlich intendiert ist, verliert ihre Glaubwürdigkeit. Anzeichen für latenten Antisemitismus in der Kunstszene werden seit Jahren vermutet. Sie haben zur Bundestagsentscheidung gegen die Boykottbewegung BDS geführt, oder auch zur Kritik an Initiativen, durch die palästinensische Stimmen Gehör finden. 

Verbunden mit dieser Kritik ist oft die Forderung nach einer radikalen Korrektur der staatlichen Kulturförderung. Angesichts dieser Diskussionslage waren Ruangrupa und die eingeladenen Kollektive von Beginn an im Fokus derjenigen Spieler, die vor Judenfeindlichkeit in der Kunstszene warnen.

Das Taring-Padi-Banner als smoking gun

Um zu beweisen, dass eine ganze Ausstellung antisemitische Botschaften transportiert, mussten Belege gefunden werden, die den Anfangsverdacht erhärten. Sobald die Namen der Teilnehmer bekannt waren, wurden Verbindungen von Kuratoren und Künstlerinnen zu antisemitisch eingestuften Quellen berichtet, dann in Gegendarstellungen dementiert. 

Als die Werke schließlich zu sehen waren, fanden sich vier Werkserien mit israelkritischen Darstellungen, bei denen antisemitische Absicht plausibel vermutet werden konnte. Das großflächige Taring-Padi-Banner auf dem Friedrichsplatz hatte besondere Beweiskraft: Unter den 274 Figuren war nicht nur die israelkritische Karikatur eines Mossad-Soldaten, bei dem die Atemlöcher seines Helms als Schweineschnauze gelesen wurden, sondern auch eine zweite Figur, die nach europäischer Lesart als eindeutiges Symbol für den "ausbeuterischen Geldjuden" gilt. Sie wurde zur smoking gun der Beweisführung: ein an NS-Vorbilder erinnerndes Zerrbild, präsentiert an zentralem Ort, womöglich absichtlich verspätet aufgehängt. 

Die Evidenz war ausreichend, um nicht nur dem Künstlerkollektiv "Verschlagenheit" und "trotzige Verlogenheit" vorzuwerfen, weil sie ihre antisemitische Absicht nicht zugeben wollten, sondern auch das Kuratorenteam und die Geschäftsführung wegen Fahrlässigkeit, Komplizenschaft und Inkompetenz anzuklagen. Zwar kam von Seiten indonesischer Künstler und Kulturkennerinnen der Vorschlag, die entscheidende Figur als "Geldchinesen" zu interpretieren, weil die chinesische Minderheit im indonesischen Wirtschaftsspiel eine vergleichbar wichtige, durch Gewaltausbrüche begleitete Rolle spielt. Der Vorschlag dieser alternativen Deutung verhallte.

Gleichzeitig in unterschiedlichen Wertsphären kommunizieren

Der Aufprall der Inszenierung im global vernetzten Kunstspiel auf das deutsche politische Spiel hatte ganz unterschiedliche Konsequenzen: Er verhalf etlichen der Künstlerinnen und Künstler und dem Kuratorenkollektiv zu einem Schub an Reputation in der Kunstszene, er löste eine umfassende Reorganisation des Documenta-Unternehmens aus, und er formte mit der Chiffre vom "Antisemitismus auf der Documenta Fifteen" ein neues politisches Schlagwort zur generellen Abwehr von Israelkritik in der Kunstszene.  

Die Diskrepanz war also entstanden, weil die Wertschätzungen in den zwei hauptsächlich involvierten gesellschaftlichen Wertspielen so weit auseinander lagen. Die Kommunikation über kuratorische und künstlerische Qualität spielte sich im relativ kleinen sozialen Raum der Kunstszene, ihrer Ereignisse und ihrer Berichterstattung ab. 

Im weitaus größeren politischen Raum, in dem die Regeln der Förderung von Kunstprojekten und -einrichtungen durch staatliche Institution verhandelt werden, dominierte dagegen der Streit über Belege für den Antisemitismusverdacht. Diejenigen, die sich in der Kunstwelt bewegen, erlebten beide Kommunikationsweisen. 

In Fällen wie dem Documenta-Fifteen-Skandal, wenn Wertschätzungen krass auseinanderfallen, bemerken die Mitspielenden, dass sie gleichzeitig in unterschiedlichen Wertsphären kommunizieren. Normalerweise fällt uns das nicht auf, denn wir sind in die Wertspiele hineingeboren und bewegen uns in ihnen mit der Selbstvergessenheit von Fischen im Wasser. Sich diese unterschiedlichen Ausgangssituationen bewusst zu machen, könnte ein erster Schritt sein, die Konfliktlinien in der Debatte um die Documenta Fifteen zu erkennen, ohne die unterschiedlichen Bewertungen gleich zu instrumentalisieren.