Beschluss des Aufsichtsrats

Documenta: Kein Verhaltenskodex für Künstlerische Leitung

Fridericianum in Kassel
Foto: Nicolas Wefers / Documenta

Fridericianum in Kassel

Bei der nächsten Documenta sollen Skandale wie der Antisemitismus-Eklat verhindert werden. Dazu hat der Aufsichtsrat nun unter anderem Beschlüsse über umstrittene Verhaltensregeln gefasst

Kein Verhaltenskodex für die Künstlerische Leitung, stattdessen eine öffentliche Veranstaltung mit Stellungnahme der Kuratoren zu ihrem Menschenbild. So soll bei der kommenden Documenta ein erneuter Eklat nach den Antisemitismus-Vorfällen auf der vergangenen Weltkunstschau in Kassel verhindert werden. 

Zur Aufarbeitung des Antisemitismus-Debakels auf der Documenta Fifteen im Sommer 2022 hatte der Aufsichtsrat der documenta gGmbH eine Managementberatung mit einer Organisationsuntersuchung beauftragt. Diese empfahl unter anderem die Geschäftsleitung sowie die Künstlerischen Leitung der documenta auf Verhaltenskodizes, sogenannten Codes of Conduct, zu verpflichten, die den Schutz der Menschenwürde sowie der Kunstfreiheit gewährleisten sollten.

Besonders gegen einen Verhaltenskodex für die Künstlerische Leitung hatte es im Vorfeld Widerstand gegeben. So sah etwa die Initiative "#Standwithdocumenta", die unter anderem von den ehemaligen Kasseler Oberbürgermeistern Hans Eichel, Bertram Hilgen und Wolfram Bremeier sowie den documenta-Künstlern Gunnar Richter, Gernot Minke und Horst Hoheisel unterstützt wird, dadurch die Kunstfreiheit gefährdet. Eine von ihr initiierte Petition gegen Versuche politischer Einflussnahme auf die Documenta unterschrieben seit Ende Januar mehr als 4000 Menschen.

"Teil einer herrschenden Misstrauenskultur"

Der Aufsichtsrat entschied sich nun gegen einen Verhaltenskodex für die Künstlerische Leitung. Stattdessen soll sie frühzeitig in einer öffentlichen Veranstaltung ihr künstlerisches Konzept vorstellen und dabei auch darlegen, "welches Verständnis sie von der Achtung der Menschenwürde hat und wie deren Wahrung auf der von ihr kuratierten Ausstellung sichergestellt werden soll", wie es hieß. Der Documenta gGmbH als Trägergesellschaft der Documenta hingegen soll die Erstellung eines Codes of Conduct auferlegt werden.

Der Kasseler Kunstwissenschaftler und Documenta-Kenner Harald Kimpel hält einen solchen Kodex für überflüssig. "Für mich ist das Abverlangen eines Bekenntnisses zur Menschenwürde fast ein Verstoß gegen die Menschenwürde. Es ist nicht nur ein Ratlosigkeitszeugnis, sondern Teil einer herrschenden Misstrauenskultur." Der Künstlerischen Leitung ein öffentliches Bekenntnis abzuverlangen, sei letztlich nichts anderes als die Verpflichtung auf einen Verhaltenskodex. "Ob das jetzt schriftlich festgelegt oder in öffentlichen Veranstaltungen mündlich geäußert wird, ist im Grunde dasselbe."

Die Initiative "#Standwithdocumenta" begrüßte am Mittwoch den Verzicht auf einen Code of Conduct für die Künstlerische Leitung, bezeichnete die stattdessen geplante öffentliche Anhörung allerdings als "Ausdruck eines Misstrauens, das im Sinne der Kunstfreiheit wenig hilfreich ist."

Zwei Mitglieder des Bundes im Aufsichtsrat

Zu den Empfehlungen der Managementberatung zählte unter anderem die Verkleinerung des Aufsichtsrats auf fünf bis neun Mitglieder mit einem stimmberechtigten Sitz für den Bund. Der ist derzeit im Aufsichtsrat nicht vertreten. Die Bundeskulturstiftung hatte sich 2018 aus dem Gremium zurückgezogen, fördert die Schau aber weiterhin mit 3,5 Millionen Euro. Im Zuge des Antisemitismus-Eklats 2022 waren Forderungen nach mehr Einfluss des Bundes auf die Weltkunstschau laut geworden.  

Der Aufsichtsrat entschied sich nun zwar gegen eine Verkleinerung. "Auf diese Weise sollen die Stadt Kassel und das Land Hessen angemessen vertreten sein", hieß es zur Begründung. Zwei Vertreter des Bundes sollen aber als vollwertige Mitglieder mit Stimmrecht in das Gremium aufgenommen werden.

Dass der Bund anstelle der Kulturstiftung des Bundes nun zwei Sitze im Aufsichtsrat bekommen soll, sei eine unnötige Politisierung der Ausstellung, kritisierte die Initiative "#Standwithdocumenta". "Warum soll der Bund hier ein Mitspracherecht bekommen? Warum schwächen Stadt und Land ihre Position?"

"Eine Billiglösung"

Die Verantwortlichen zeigen sich zuversichtlich. Die Documenta gGmbH gehe nun mit einem wirksamen Instrumentarium zum Schutz künstlerischer Freiheit und zum Schutz gegen menschenfeindliche Diskriminierung und Antisemitismus gestärkt in die Zukunft, erklärte etwa der Documenta-Aufsichtsratsvorsitzende, Kassels Oberbürgermeister Sven Schoeller (Grüne), am Dienstagabend.

Das sieht Kunstwissenschaftler Kimpel anders: "Gemessen an dem Großspurigen: 'Weiter so geht nicht', sind die Beschlüsse für mich recht dünn und eine Art Billiglösung. Ein minimalinvasives Verfahren, mit dem Handlungsfähigkeit demonstriert werden soll." Sie seien eine Kosmetik an den Strukturen, kein Rütteln an ihnen. "Ich sehe die Documenta nach wie vor in einer verfahrenen Situation, die jetzt versucht, sich über Symbolpolitik nach außen hin aus der Affäre zu retten und zunächst die Energie aus der Debatte herauszunehmen und alle zufriedenzustellen."

Das Hauptproblem der Documenta sei nicht struktureller, sondern inhaltlicher Natur. "Das Hauptdilemma ist, dass man sich schon seit Langem von künstlerischen Inhalten verabschiedet hat, dass eine Entkunstung stattgefunden hat." Die Documenta trage zwar noch ihren Namen, werde aber mit beliebigen Inhalten gefüllt. Kimpel bekräftigte daher sein Plädoyer, die Documenta nach sieben Jahrzehnten zu einem "fulminanten Abschluss zu bringen und sie vor dem Schicksal zu bewahren, alle fünf Jahre als Kulturzombie reanimiert zu werden." Das sei ein Plädoyer für die Documenta und nicht gegen sie, "um sie in einer Situation, in der sie sich noch nicht endgültig um ihre Autorität und Reputation gebracht hat, in Würde zu retten." Die Documenta gilt neben der Biennale in Venedig als wichtigste Ausstellung für Gegenwartskunst. Die 16. Ausgabe der Schau soll vom 12. Juni bis 19. September 2027 in Kassel stattfinden.