Die Internationalen Filmfestspiele von Cannes gelten als eines der wichtigsten Filmfestivals der Welt. Und als Trendsetter. Wer hier gewinnt, ist in aller Munde oder sorgt zumindest für Kontroversen. Ob es um die Abgründe von Sexarbeit geht (Sean Bakers "Anora") oder um ungewohnte Formen sexueller Lust (Julia Ducournaus "Titane").
Die buntesten Blüten treiben jedoch gerade jene kleinen Filme im Programm, die wie Lucio Castros "Drunken Noodles" zwar außerhalb des Wettbewerbs laufen, aber meist noch beeindruckender und ideenreicher sind als die Flaggschiffe des Wettbewerbs.
Im Zentrum der "beschwipsten Nudeln" steht Kunststudent Adnan (Laith Khalifeh), der über den Sommer als Praktikant in einer New Yorker Galerie aushilft. Unter dem provokanten Titel "I Want Your Skull" sind dort Stickereien eines älteren Künstlers ausgestellt. Zu sehen sind bunte, groteske, in jedem Fall pornografische Bilderreigen. Disneyfiguren wie Donald Duck, aber auch mythologische Gestalten wie der Faun begegnen sich in wilden Orgien. Da verwundert es kaum, dass auf einem der Motive nicht Pinocchios Nase wächst, sondern ein anderer Körperteil ...
Pikante Stickereien
Adnan ist äußerst angetan von der Kunst des Provokateurs, mit dem er in der Vergangenheit selbst eine Affäre hatte. So angetan, dass der junge Mann bald auch andere Menschen in den Bann der pikanten Stickereien zieht, womit eine spielerische Auseinandersetzung mit queerer Kunst beginnt.
Er wollte einen zärtlichen Film über Kunst machen, sagt Regisseur Lucio Castro. Seit über 20 Jahren lebt der Argentinier selbst in New York. Das in seinem Film behandelte Werk des Künstlers Sal Salandra hatte er 2021 kennengelernt. Sofort faszinierte ihn, dass dessen Werke, anders als traditionelle Handarbeiten, gerade keine idyllischen Landschaften oder mit Wolle spielende Kätzchen zeigt. Erst wollte Castro eine Dokumentation über den mittlerweile 81-Jährigen drehen, stellte dann jedoch fest, dass damit nicht ausgedrückt werden kann, was ihn an Salandra so fesselt.
Castros dritter Spielfilm "Drunken Noodles" zeigt diese Faszination nun umso eindrücklicher, ja, auf fast obsessive Weise. Schon früh sehen wir, wie Protagonist Adnan zusammen mit seinem Date, dem Kurierfahrer Yariel (Joél Isaac), und dessen Freunden die Szenarien des Textilkünstlers nachstellt: als bewegungslose Standbilder in seinem nüchtern eingerichteten Apartment. Pornografisch ist an diesen Performances nichts. Vielmehr wirken die stillen Männerkörper im kühlen Abendlicht entrückt und statuenhaft. Noch ätherischer ist die erste Begegnung der Hauptfigur mit dem Künstler selbst (Ezriel Kornel). Nach dem Sex zeigt dieser Adnan seine Lieblingsstelle im Wald, fordert den jungen Mann auf, einfach nur zu lauschen.
Mythenfiguren erwachen zum Leben
Erst ist Adnan von der endlosen Meditationsübung sichtlich gelangweilt. Dann jedoch passiert das Unglaubliche. Der Faun, den Adnan zuvor auf den Bildern gesehen hatte, steigt aus einem Gebüsch und streift durch den plötzlich neonleuchtenden Wald. Wie in den psychedelischen Kunstfilmen von Kenneth Anger ("Inauguration of the Pleasure Dome") oder James Bidgood ("Pink Narcissus") erwachen bei Lucio Castro Mythengestalten zum Leben und werden Teil queerer Performances.
Adnan ist jedenfalls begeistert. Jedoch mahnt die Saladra-Figur, dass er den schönen Faun nicht berühren dürfe. Wie die Standbilder wird auch diese Erotik zur Kunst, zum sinnlichen Stillstand und dabei umso hinreißender.
Er wolle Realität und Fantasie mit demselben Blick behandeln, verrät Regisseur Castro im Interview. Kunst transzendiere für ihn Rationalität und trifft den Menschen damit im Kern. In "Drunken Noodles" gelingt das auf besondere Weise. Nicht nur erhalten wir unmittelbare Einblicke in die Lebenswelt eines jungen schwulen Mannes, sondern erleben auch, auf welch schillernde Weise queere Kunst dieses Leben verwandelt. Ob sie nun gestickt, performt oder einfach nur betrachtet wird. Der Faun im Wald wartet schon.