Utøya-Fotograf Werner Zellien

"Es gibt eine Pflicht zur Hoffnung"

Werner Zellien hat als erster Künstler nach den Terroranschlägen von 2011 auf der norwegischen Insel Utøya fotografiert. Ein Gespräch über Trauer und Hoffnung. 

Herr Zellien, Sie sind der erste Künstler, der nach den Terroranschlägen von 2011 von der AUF, einer Sozialdemokratischen Jugendorganisation in Norwegen, die Erlaubnis bekam, die Insel Utøya zu besuchen, um dort künstlerisch zu arbeiten. 69 Menschen, vor allem Kinder, wurden damals erschossen. Wie haben Sie die AUF, der die Insel gehört, überzeugt? 

Das weiß ich nicht genau. Ich hatte viele Gespräche mit der Leitung. Ich denke, meine anderen Kunstprojekte gaben den Ausschlag. Ich habe zum Beispiel in der Villa Wannsee fotografiert. 1942 trafen sich dort führende Funktionäre des NS-Regierungsapparates sowie der SS, um über die Kooperation hinsichtlich der sogenannten Endlösung der Judenfrage zu beraten. Die Villa liegt nahezu idyllisch auf dem Weg nach Potsdam. Auch hier ging es mir um das Sichtbarmachen des nicht mehr Sichtbaren. 

Was zog Sie im Dezember 2012 auf die Insel Utøya? Welches Anliegen liegt dem Projekt zugrunde? 

Die AUF hatte den verständlichen Wunsch, die Insel wieder in Besitz zu nehmen. Ich habe befürchtet, dass dies mit großen Veränderungen beziehungsweise Zerstörung etwa der Bausubstanz einher gehen würde. Ich wollte die Insel in ihrem ursprünglichen Zustand fotografieren. Ich wollte in meinen Bildern das abgrundtiefe Verbrechen ohne offensichtliche Spuren der Gewalttat zeigen. Die Insel sollte von einer dünnen Schneedecke bedeckt sein, sodass man beim Betrachten der Bilder nicht sofort auf Spurensuche geht.

Auf den ersten Blick handelt es sich um unglaublich ästhetische Naturaufnahmen. Mit dem Wissen um die Geschehnisse vor Ort, wird klar, dass die Natur Zeugin schrecklicher Ereignisse ist. Wie haben Sie sich auf den Aufenthalt auf der Insel vorbereitet? 

Norwegen ist ein unglaublich schönes Land, egal in welchem Teil des Landes man sich befindet. Als Fotograf bin ich abhängig von dem, was uns umgibt. Mir ging es darum, die Widersprüche zu zeigen, das Shakespearesche "Fair is foul and foul is fair". Die Grausamkeit im Schönen. Zugleich will ich zeigen, dass es eine Pflicht zur Hoffnung gibt. Ich war stundenlang auf der Insel, um sie in furchterregender Dunkelheit zu zeigen, die allmählich vom Sonnenaufgang erhellt wird. 

Was war die größte Herausforderung des Projektes? 

Während der Zeit auf der Insel die  Nerven zu behalten und in der Kälte mein tränennasses Gesicht zu trocknen.

Wie viel Zeit hatten Sie vor Ort? 

Ich hatte fünf Stunden für meine Arbeit. Frühmorgens um halb sieben wurde ich vom Fährmann Jon zur Insel gefahren. Er fuhr zurück und ich war allein, keine Chance zur Flucht. Eiskalte Luft, schneidender Wind. Ich war zunächst überfordert, wusste gar nicht mehr, was ich mir vorgenommen hatte. Ich habe dann mit dem angefangen, was ich kann und die Kamera auf Stativ montiert. Diese kurze, banale, routinierte Handlung hat mir tatsächlich geholfen. Ich erinnerte mich, dass ich vermeiden wollte, meine Fußstapfen im Schnee zu fotografieren, um nicht wie Robinson Crusoe meinen eigenen Fußspuren zu begegnen. Ich wollte das Gespenst auf der Insel sein. Also stapfte ich los durch den Schnee, nicht über die Wege, sondern durchs Gebüsch. 

Wie haben Sie die Serie technisch umgesetzt? 

Das ist womöglich die langweiligste Frage. Ich bin ein analoger Fotograf der digitale Daten analog bearbeitet. Um die Daten am Computer bearbeiten zu können, musste ich den Raum vollständig verdunkeln, damit ich überhaupt etwas erkenne. Das heißt: Dunkelkammerarbeit am Computer. 

Ihre Arbeit besteht genau aus 45 Fotografien. Liegt dieser Zahl eine konzeptuelle Entscheidung zugrunde? 

Nein, das ist Zufall. Monatelang waren es 44 Bilder. Eine komplette Bilderserie, der aber etwas fehlte. Etwas, das die Bilder auf eine andere Ebene hebt. Dann habe ich sie mit einem Gedicht von Friedrich Rückert (1788–1866) ergänzt, in dem er den Tod zweier seiner Kinder betrauerte, die an Scharlach gestorben waren. Dies ist das Gedicht, bekannt durch Gustav Mahlers Vertonung: "Nun will die Sonn' so hell aufgehen / als sei kein Unglück die Nacht geschehen. / Das Unglück geschah nur mir allein. / Die Sonne, sie scheinet allgemein." Da haben wir es: Den Tod und die Sonne. 

Im Kunstverein in Dresden ist die Serie so präsentiert, dass man gegen den Uhrzeigersinn laufen müsste, um das hellste, das hoffnungsvollste Bild zu sehen. Am anderen Ende stehen die Zeilen. ​Je nachdem von welcher Seite man beginnt, die Serie zu schauen, hat sie ein hoffnungsvolles oder sehr beklemmendes Ende.

Die 45 Bilder kann man in beide Richtungen abgehen. So wie ein Trauerprozess tatsächlich abläuft: Dunkle Zeiten erhellen sich allmählich. Und trotzdem geht man immer wieder zurück in die Traurigkeit. Friedrich Rückert hat insgesamt 428 Gedichte über den Tod seiner Kinder geschrieben, die gar nicht zur Veröffentlichung gedacht waren. Er hat sie für sich selbst geschrieben. Rückert war ein bemerkenswerter Mann, konnte 40 Sprachen, hat den Koran übersetzt und somit nach Deutschland gebracht. Ein multikultureller Orientalist, der sicherlich eine Zielscheibe des Mörders gewesen wäre. Dass die Sonne immer wieder aufgeht, ist gleichermaßen tröstlich und grausam. In der Trauer pendelt man, ohne Kontrolle darüber zu haben, vom Dunklen zum Licht und zurück in die Dunkelheit. Es geht nicht vorwärts, nichts kann dich aufmuntern. Kein Stück Kuchen, kein Film oder wildes Trainieren. Es hilft aber, in den Abgrund zu schauen. Wieder und wieder. Solange bis man beim Anblick von Schönheit und der Sonne weint. Dann schließt sich ein Kreis. 

Wie haben Sie selbst die Anschläge damals erlebt? 

Am 22. Juli 2011 war ich mit meiner Frau und unserer Tochter im Urlaub auf Kreta. Ich bekam eine Nachricht von meinem Sohn, kurz und knapp: "Alles ok, ich lebe noch". Wie sich herausstellte, war er nur 200 Meter von der Explosion in Oslo entfernt und hatte Glück, weil er sich mitten auf einer Straße befand. Andere wurden beim Schaufensterbummel von herabfallendem Glas zum Teil übel verletzt. Es gab acht Tote und über 200 zum Teil Schwerstverletzte. Erst eine knappe Woche später kamen wir zurück nach Oslo. 

Wie präsent sind die Ereignisse heute noch in Norwegen? 

Der Tag ist noch sehr präsent. Man darf sich nicht von der Nebelwand einer Nazi-Ideologie täuschen lassen. Hinter dieser Wand findet sich ein blutrünstiger Mörder von Kindern und Erwachsenen. Der Täter hat unbegreiflich grausame Morde begangen. Viele Menschen erinnern sich noch genau, wo sie an diesem 22. Juli waren. Viele hundert Familien im ganzen Land sind direkt oder indirekt von der Explosion in Oslo oder von dem Massaker auf Utøya betroffen gewesen. Dazu die Menschen, die damals im Einsatz waren, Helikopter-Piloten, die Polizei, Notärzte, Rettungssanitäter, die Ärzte im Krankenhaus, die verzweifelt versuchten, Leben zu retten. Menschen, die unweit der Insel leben und die mit ihren Freizeitbooten ertrinkende Kinder aus dem Wasser retteten, unter Beschuss! Das Hotel, das in ein Krankenlager verwandelt wurde. Es gibt für die Norweger kein Entkommen!

Gab es auf Ihre Serie Reaktionen von Betroffenen, etwa von Eltern? Haben Sie den Kontakt zu ihnen gesucht?  

Nein, das habe ich nicht. Versetzten Sie sich in die Lage einer trauernden Mutter! Soll ich ihr mein Fotoprojekt zeigen, um die Zustimmung von ihr bekommen, dass ich das aber schön gemacht habe? 

Die Insel wird heute wieder für Sommerfreizeiten genutzt. Waren Sie seit ihren Aufnahmen noch einmal da? 

Ich war noch mehrmals da, aber ohne Kamera. Die Insel wurde und wird nach wie vor zur politischen Weiterbildung genutzt. Die Kinder erproben sich im Reden halten und Standpunkte vertreten. Es geht darum, Demokratie zu erlernen. Die Insel hat seit dem Massaker nach etwa anderthalb Jahren eine große Transformation durchgemacht. Gebäude in denen Grausames geschah wurden abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Wandteile aus dem Kaffeehaus, an denen zahlreiche Einschüsse zu finden sind, sind heute als dauerhafte Erinnerung in einem anderen Gebäude verbaut.

Wie kam es dazu, dass das Projekt in Dresden zu sehen ist? 

Der Kunstverein Dresden ist bereits die vierte Station. Auf Vermittlung von René Block hin wurde die Serie vom Arter Museum in Istanbul 2018 gekauft und im Rahmen einer Gruppenausstellung mit dem schönen Namen »Locus Solus« dort in Istanbul im Jahr 2022 neun Monate lang gezeigt. Die Bildserie "UTØYA" ist seit 2021 Teil der Kunstsammlung der Kommune Oslo. Das Lillehammer Kunstmuseum war die zweite Ausstellungsstation. Kuratiert von Direktor Nils Ohlsen waren dort im Projektraum statt 45 nur 35 Bilder zu sehen. Er hat den Kontakt nach Dresden vermittelt. Dresden ist als Ausstellungsort und nicht zuletzt in dieser Zeit ein perfekter Ort für die "UTØYA"-Serie. Ort und Zeit stimmen. Ein Bild steht nun auch im öffentlichen Raum auf dem Schlossplatz in Dresden. 

Sie haben sich wie gesagt schon vermehrt mit historisch extrem belasteten Orten beschäftigt. Ihr Fotoprojekt zur Wannseevilla liegt als Publikation vor. Ist auch die Publikation dieses Projektes geplant?

Ja! Träume kosten nichts, aber Publikationen.

Sie leben schon seit 2003 in Norwegen, sind 1952 in Westfalen geboren, haben in Irland und West-Berlin gelebt. Was zog Sie nach Norwegen? 

Meine Frau Irene. Wir sind seit 30 Jahren zusammen.