Herlinde Koelbl in Leipzig

Das gelebte Leben

Die Fotografin Herlinde Koelbl ist eigentlich für ihre Porträts von Menschen mit Macht bekannt. In Leipzig zeigt sie nun eine neue Serie mit verwelkenden Pflanzen. Auch hier geht es um die Spuren der Zeit

Fotografien von Blumen sind normalerweise eher dekorativ. Normalerweise. Die neuen Arbeiten der deutschen Fotografin Herlinde Koelbl beweisen das Gegenteil. Abstrakt, fleischig und im Vergehen ist die abgebildete Natur. Es sind Blüten, Pflanzen und Früchte, die den Zenit der Pracht bereits überschritten haben, die langsam verwelken. 160 dieser Bilder zeigt derzeit die Ausstellung "Metamorphosen" auf 800 Quadratmetern im Leipziger Grassi Museum. 

Bekannt geworden ist Koelbl mit Fotografien von Menschen. Im Zeitraum von 1991 bis 1998 fotografierte und interviewte sie jedes Jahr immer wieder dieselben 15 Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft, darunter Joschka Fischer, Gerhard Schröder und Angela Merkel. Als bekannt wurde, dass Merkel Kanzlerin werden würde, setzte sie die jährlichen Fotosessions mit Merkel noch bis 2021 fort. Daraus entstand die beeindruckende Werksserie "Spuren der Macht – Die Verwandlung des Menschen durch das Amt". 

Die körperliche Veränderung bei Merkel scheint nicht allein der Zeit geschuldet. Ihre Gesichtszüge, ihre Statur und ihre Haltung lassen Rückschlüsse auf die einhergehende Entwicklung im Charakter einer Machthabenden zu. Auch Koelbls andere Langzeitprojekte beleuchten immer wieder die Veränderung der Menschen, sei es durch Mode ("Kleider machen Leute", 2012), Gesellschaftsnormen ("Das deutsche Wohnzimmer", 1980) oder durch Drogenkonsum ("Rausch und Ruhm", 2003).

Ein Blatt wie ein Schmetterlingsflügel

In "Metamorphosen" nun stehen erstmals nicht die Menschen im Fokus, sondern die Natur. Auch hier geht es um Veränderung, Vergänglichkeit und Zeit. Selten ist erkennbar, welche Blume oder Pflanze dargestellt ist, so dicht ist die Kamera am Objekt. Kleinste Details sind stark vergrößert, man sieht immer nur einen Ausschnitt. 

Wie etwa einen Teil von einem gelb-bräunlichen Blatt, das bereits schwarze Flecken hat und sich am Rand aschgrau kräuselt. Das Gewächs ist so elegant aufgefächert, dass es an den Rock einer Flamencotänzerin oder einen Schmetterlingsflügel erinnert. Die Gitterstruktur eines sich zersetzenden Blattes sieht aus wie ein Stadtplan, eine verwelkte Blüte erinnert an eine schlafende Fledermaus, die die Flügel um den Körper geschlungen hat, eine verschrumpelte, mit Tautropfen benetzte Rosenblüte ähnelt blutroten Lippen. 

Assoziationen zum weiblichen Körper sind unumgänglich. "Um der Fantasie ganz viel Freiraum zu lassen, habe ich bewusst auf Bildtitel verzichtet. Titel schränken nur ein, daher gibt es hier nur einen Überbegriff: Metamorphosen", erläutert Koelbl im Interview. 

"Nicht mehr sein wie zuvor"

Die 84-Jährige bezieht sich hier explizit auf Ovid und zitiert ihn im Katalog: "Und in der Weite der Welt geht nichts – das glaubt mir – verloren; / Wechsel und Tausch ist nur in der Form. Entstehen und Werden / Heißt nur, anders als sonst anfangen zu sein, und Vergehen / Nicht mehr sein wie zuvor." Auch wenn die Vergänglichkeit in der Natur auf den Fotos eingefangen ist, heißt dies nicht, dass der Tod das Thema der Ausstellung ist. Vielmehr sind das gelebte Leben und der ständige Wandel die Grundthemen bei Koelbl. 

Die Künstlerin hat den schmalen Grat zwischen dem üppigen Leben und dem Kippen in den Verfall festgehalten. Wenn in der Natur etwas vergeht, werden die Farben intensiver, dunkler, kontrastreicher. Strukturen und Muster treten deutlicher hervor. So wie der Charakter und die Eigenheiten eines Menschen im Alter stärker werden. Das Leben bäumt sich noch einmal auf, bevor es in einen anderen Seinszustand übergeht. 

Wo Koelbl in den früheren Menschenporträts noch mehrere Aufnahmen benötigte, um Zeit und Veränderung darzustellen, kommt sie hier mit nur einem einzigen Bild aus. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind verdichtet in dem Moment des Übergangs zwischen Sein und Nicht-Sein.

Den Regen auf der Haut spüren

Dass auch der Duft von überreifen Früchten oder getrockneten Blumen intensiver werden, lässt uns Koelbl mit unserem Geruchssinn im "Remember-Raum" erfahren. Mitten in einem dunkel ausgekleideten Abschnitt des Museums steht ein riesiges Gesteck aus getrockneten Blumen und Gräsern. Von den Pflanzen geht ein betörender Duft aus. Stühle laden zum Verweilen ein. Aus Lautsprechern sind männliche und weibliche Stimmen zu hören: "Do you remember the rain on the skin?", "Do you remember the rainbow?", "Do you remember the smell of the spring?" 

Und wenn man die Augen schließt, meint man tatsächlich, den Regen auf der Haut zu spüren, den Regenbogen zu sehen und den Frühling zu riechen. "Erst wenn wir gelebt und erlebt haben, können wir erinnern", sagt Koelbl. Das Leben ist im Vergehen immanent, es ist nur ein anderes Stadium.