Konformismus in der Mode

Warum wollen alle gleich aussehen?

Fast Fashion und Mikrotrends auf Social Media führen dazu, dass sich gerade viele jüngere Menschen wie Klone kleiden. Denn es kostet Arbeit, seinen persönlichen Stil zu finden. Vielleicht ist Individualität die neue Subkultur?

Im letzten Winter machte ein Bild auf X die Runde. Darauf zu sehen ein Phänomen, das man Klon-Kleidung nennen könnte. Eine Gruppe junger, weißer Frauen der Generation Z, die alle zum exakt gleichen Look gegriffen haben: einer weit sitzenden Jeans mit heller Waschung, einem engen Jersey-Oberteil in Grau oder Schwarz und weißen Turnschuhen. Einige offenbar ältere User wiesen unter dem Post sofort darauf hin, dass man sich so doch nicht zu einem abendlichen Event kleide. Doch das war hier sicher nicht das größte Problem.

"Kleidung als eine Erweiterung des Ichs ermöglicht es uns, unsere individuellen Überzeugungen über uns selbst zu ordnen", schrieb vor Kurzem der Account @fashionpsychology auf Instagram. "Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass wir mit unserer Kleidung Botschaften über unsere Identität, unseren sozialen Status, unsere Persönlichkeit, Zugehörigkeiten und sogar über unsere Stimmung oder Absichten vermitteln", heißt es weiter. "Das nennt man Signalisierungs-Verhalten. Was wir tragen, übermittelt anderen Informationen über uns. Es ist eine bedeutende Form nonverbaler Kommunikation." 

Die Mode, die wir zu tragen, gleicht einer Sprache. Sei es ein praktischer Aspekt oder ein ästhetischer: Kleinste Entscheidungen geben Rückmeldung an das Gegenüber. Das beschriebene Bild lässt so fast vermuten, dass man hier keinen eigenständig denkenden und handelnden Individuen begegnet.


Was bedeutet es, wenn ein Freundeskreis, sogar Teile einer ganzen Generation, einander optisch wie Kopien gleichen? Fühlen sie alle dasselbe, gehen den gleichen Aktivitäten nach, haben ähnliche Charaktereigenschaften und Herkunftsorte? 

Vielmehr geht es vermutlich um Unsicherheit. "Ich gehöre dazu und bin ein Teil eines größeren Ganzen", kommuniziert das angepasste Anziehen. Die Mitglieder der Gruppe verhalten sich wie eine Herde, in der sich die Tiere als Einheit gegenseitig das Überleben sichern. "Wir kleiden uns aus Resonanz, nicht aus Rebellion", erklärt Autorin Samantha Corry. "Ich denke oft darüber nach – über diese langsame Erosion innerer Subjektivität. Darüber, wie 'Coolness' sich zu einem Raster aus Referenzen verflacht hat, ständig neu kombiniert, ständig im Umlauf. Sich zu kleiden wie jemand, dem es egal ist – obwohl ganz offensichtlich das Gegenteil der Fall ist".  

Gleichzeitig zeigen diese leeren Outfits, die oft aus Fast-Fashion-Mode zusammengestellt sind, auch eine klare Absenz von Identität und Interessen. "Man kann keinen persönlichen Stil entwickeln ohne echtes Lebendigsein", ist ein Reel der Content-Erstellerin Rebeca Oksana betitelt.

Die eigenen Bedürfnisse an Mode gehen schnell verloren

In einer Realität, in der Trends in einer rasanten Geschwindigkeit auf uns einprasseln und über die sozialen Medien die Relevanz des Mitmachens und "in Mode sein müssen" niemals abflaut, gehen die eigenen Bedürfnisse an Kleidung rasch unter. "Stil ist so viel mehr, als wie du dich kleidest. Stil wird durch Zeit und Erfahrungen gewonnen", erklärt Rebeca Oksana. 

Als eine Kombination aus all dem, was eine Persönlichkeit ausmacht, beschreibt sie auch den dazugehörigen Look: Orte, die man besucht hat, Filme, die einen beeindruckt haben, Musik, Bücher. Aber man müsse es tatsächlich leben und könne es nicht einfach nur kopieren, denn sonst fühle es sich wie ein Kostüm an. Die schlichte Uniform gerade der jüngeren Generation verrate nichts Individuelles, spiegele nichts Persönliches. Die Vermutung liegt nahe, dass ein nahezu chronischer Online-Zustand, ein paralleles digitales Leben, nicht viel Zeit für irdische Erlebnisse lässt, die als Inspiration und Referenzen für das Ankleiden dienen können.

Selbst Mode-Influencer, die sich vermeintlich außergewöhnlicher kleiden, beeindrucken nur, bis man sie mit der nächstbesten Kollegin vergleicht. Farbige Turnschuhe, Pyjama-Hosen, ein Seidentuch um die Hüfte gebunden – schnelllebige Trend-Stücke, die schon in wenigen Monaten den Instagram-Feed wieder verlassen werden.

Im Internet zum Einheitsbrei verrührt

Welche modische Tendenz auch immer ins Internet findet, wird dort zu einem Einheitsbrei verrührt. Einmal von der Masse entdeckt und imitiert, verblasst sie so schnell wie sie entdeckt wird. Es sind die gleichen Produkte an ähnlich aussehenden Menschen, die selbst ihre Figuren und Gesichter an ein saisonales Ideal anpassen. 

Einen fast erleichterten Aufschrei gab es, als zwei Darstellerinnen der dritten Staffel der Serie "White Lotus" ihre nicht perfekten Zähne zeigten. Ihr ganz eigenes dentales Profil, das nicht in jeder beliebigen Zahnarztpraxis nachgebaut werden kann. Mutig wurde es genannt, dass sie sich trauten, ihre vermeintlichen Makel zu präsentieren, die ja schnell behoben werden könnten. Denn alles kann heute in wenigen Arztterminen, Warenkorb-Klicks und gym sessions einem Ideal angepasst werden. 

Doch was bleibt von diesem falsch verstandenen Perfektionismus? Denken wir heute an große Stilikonen, geht es um Personen, die ihre eigene Ästhetik gefunden und gelebt haben und ihr treu geblieben sind. Dazu gehört etwa die früh verstorbene Carolyn Bessette-Kennedy (1966-1999), die ihre für Modenschauen ausgeliehenen Outfits ungenutzt zurückgab, da ihr eigener Kleiderschrank sie am besten widerspiegelte. 

Persönlicher Stil ist radikal

In einer Kultur, die vom Neuen besessen ist, wirkt diese Art von Erdung im persönlichen Stil fast schon radikal. Vielleicht sprechen wir gerade daher noch immer über diese Personen, und vielleicht ist es genau das, wonach wir noch immer suchen, vermutet der Newsletter AllforCarolyn

Denn Authentizität entsteht nicht durch Neuartigkeit, sondern durch Wiederholung. Doch anstatt sich stetig selbst zu präsentieren, performen heute die meisten das, was Algorithmen ihnen in bestimmten Abständen vorgeben.

Und das hört bei der äußeren Erscheinung nicht auf. Auch beim Thema Tourismus zeigt sich, dass einer bestimmten Vorstellung nachgejagt wird, die keinen Platz für eigene Entdeckungen lässt. Nehmen wir Italien: Rund 70Prozent aller ausländischen Touristen besuchen nur ein Prozent des Landes. Die am stärksten frequentierten Orte sind Klassiker wie Rom, Florenz, Venedig, die Amalfiküste und die Cinque Terre. Menschen reisen dem nach, was sie online schon in tausenden Instagram-Feeds zu sehen bekommen haben. 

Ein Eiscafé als Social-Media-Sensation

Bestimmte Plätze sind daher komplett überlaufen, einige Orte für die Bewohner permanent unzugänglich. Im Mai 2023 etwa postete der Fotograf Sam Youkilis ein Bild eines Eis-Espressos der Vivoli Gelateria in Florenz, den er als "the best affogato Ive ever had" bezeichnete. Der Beitrag machte das Eiscafé zu einer Social-Media-Sensation. 

Ab diesem Moment warteten ununterbrochen Menschenschlangen vor der Gelateria: Sie alle wollten nicht nur den Affogato trinken, sondern allem voran ein genau gleiches Bild des Getränks nachstellen, um es ebenfalls in den sozialen Medien zu posten. Ein Florenz-Besuch ohne dieses fotografische Beweismaterial kann man sich heute quasi schenken. 

Anstatt ihrem eigenen Instinkt zu folgen, pilgert die Masse auf den vorgetrampelten "Content-freundlichen" Wegen und trägt die dafür vorkuratierte Kleidung. Weiße "European Summer"- Kleider, Pünktchen-Print, Cowboy-Boots. Und anders als bei massenübergreifenden Kleidungsphänomenen aus der Vergangenheit scheint es in der heutigen Ära kaum eine gebündelte Subkultur mit ähnlicher Sichtbarkeit zu geben, die sich dem Mainstream mit konträrer Mode entgegenstellt.

"Die Subkultur von heute ist Individualität"

Stattdessen kann jede und jeder entscheiden, eine eigene Gegenbewegung zu starten – indem er oder sie sich dem niemals endenden Trend-Spam entzieht. "Ich glaube, dass die Subkultur von heute Individualität ist: sich für sich selbst zu kleiden, nicht für Trends. Kleidung zu wählen, die die eigene Persönlichkeit widerspiegelt – nicht das, was einem vorgesetzt wird. In einer Welt, die von Einflüssen überflutet ist, ist es der größte Akt des Widerstands, selbst zu entscheiden – und sich vom Gruppendenken zu lösen", schreibt Munashe, die Gründerin des Accounts @intothefashionfocus unter ein Reel zum Thema Individualismus in der Mode. 

Die einzige Antwort auf einen starren Zeitgeist ist, die eigene Stimme, und somit auch die der eigenen Kleidung zu finden. Was würdest du tragen, wenn du einen Monat lang dein Handy nicht benutzt hättest? Welches Material spürst du am liebsten auf deiner Haut? Wie muss deine Kleidung funktionieren, was willst du zeigen, was verstecken und wo möchtest du tatsächlich dazugehören? Oder letztlich: Wer bin ich, wenn ich meinem Instinkt folge und nicht einer vorgefertigten Idee, die auf meiner "For You"-Seite wartet? 

Persönlicher Stil kann als die Subkultur des Überkonsums, der Mikrotrends und letztlich auch der Billigmode verstanden werden. Wer sich kennt und weiß, was einem steht und was man ausdrücken will, investiert eher in langlebige Stücke. Baut emotionale Bindung zu Kleidung auf, stellt sie vielleicht sogar selbst her, sodass sie den eigenen Bedürfnissen exakt entspricht. Es ist an der Zeit, Mode wieder als eine Erweiterung unserer selbst zu verstehen, sodass sie auch wirklich etwas über uns verrät.