Künstler Max Eulitz über Kiew

"Die Zukunft heißt immer noch Europa"

Eigentlich ging Max Eulitz nach Kiew, um über Monumente zu recherchieren. Aber bevor er zu seinem Aufenthaltsstipendium am Goethe-Institut in der ukrainischen Hauptstadt aufbrach, erreichte ihn das Gerücht, dass dort ein namenloser Techno-Klub entstand, der wegen seiner Adresse einfach 41 oder K41 genannt wurde. Der Künstler hat ein Buch über Klubkultur geschrieben, das ebenso von der Zeit nach den Maidan-Protesten handelt. Im Interview spricht er über neue Monumente, über Safe Spaces und den westeuropäischen Blick auf die Ukraine

Max Eulitz, Sie sind 2019 im Rahmen einer Residency des Goethe-Instituts nach Kiew gereist, als die Maidan-Proteste und die Annexion der Krim vom Westen aus gesehen nicht mehr im Blick waren. Wie haben Sie die Atmosphäre in der Stadt empfunden?

Das stimmt, zu dem Zeitpunkt war die Ukraine weniger in denn Schlagzeilen, obwohl das Land durch die andauernde Aggression Russlands im Osten nie wirklich zur Ruhe gekommen ist. Es gab in den besetzten Gebieten im Donbass fast jede Woche Tote, ein andauernder Ausnahmezustand. Psychologisch ist das über einen langen Zeitraum schwer durchzuhalten. Die Leute leben ihr Leben und versuchen mit der Situation umzugehen. An der Oberfläche, wenn ich durch Podil, den ältesten Stadtteil in Kiew gelaufen bin, wo auch der Klub ist, war es eine scheinbar normale europäische Metropole. Aber wenn man nachfragte, war der Konflikt unterschwellig doch immer präsent.

Sind Sie auch in den Osten gereist?

Man sollte in die umkämpften Gebiete nicht als Tourist reisen. Wenn man dorthin geht und möglicherweise Menschen in Gefahr bringt, dann braucht man schon einen triftigen Grund. Da ich weder Kriegsreporter bin noch für eine NGO arbeite, habe ich mir das nicht herausgenommen.

Sie haben zu einem kulturspezifischen Thema recherchiert. Was waren Ihre Fragen dabei? Wie sind Sie mit Themen wie Nähe und Distanz umgegangen?

Im Nachtleben gibt es Phänomene, die universell sind, die man überall auf der Welt findet. Aber es gibt eben auch ortsspezifische Eigenheiten. Der Klub, der noch eine Baustelle war, hat sich als Metapher für die Stadt und das Land selbst angeboten. Von der Beschäftigung mit Monumenten aus betrachtet war die Idee klar: Dieser unfertiger Ort im Wandel wäre eine schöne Alternativform. Ich habe mich gefragt, ob nicht vielleicht ein Nachtclub die lebendigste Form des Erinnerns darstellen kann, ein Versprechen von Freiheit, das jedes Wochenende neu verhandelt werden muss. Diese einst zaristische und dann sowjetische Bierbrauerei, die von einem ukrainischen Geschäftsmann aufgekauft und mit deutschem Input zu einem Technotempel transformiert wurde, hat sich als Symbol für den gesellschaftlichen Wandel mit all seinen Widersprüchen förmlich aufgedrängt. Es ist eine typische Kiew-Story, mit ungeklärtem Geldquellen, viel Improvisation und einer Menge Enthusiasmus. Gleichzeitig war ich mir der Gefahr bewusst, als Außenstehender, der nur gelegentlich als Gast anreist, die Geschehnisse vor Ort durch meine westliche Brille zu reflektieren.  

Sie benutzen für das Innere des Clubs den Begriff "Soziale Plastik", ein Konzept von Joseph Beuys.

Beuys hat den Begriff ja selbst schon recht frei interpretiert, und ich erweitere das dann nochmal. Im Grunde geht es dabei um ein institutionalisiertes Zusammenkommen. Die Politik des Clubs gibt dabei den ideellen Rahmen vor. Im Fall des K41 ist es ein klassischer Safe Space. Sonst oft marginalisierte Gruppen kommen zusammen, um ihren gemeinsamen Wertekanon zu leben. Man kann sich anziehen, wie man will, tanzen, wie es einem gefällt und küssen, wen man möchte. Das gemeinschaftliche Zelebrieren der individuellen Freiheit und die monumentale Qualität des liquiden Blocks auf der Tanzfläche – mit Strobo, Nebel und harten Bässen in endlosen Nächten – konstituiert dann den plastischen Ausdruck. 

Wie sind Sie eigentlich auf diesen Klub aufmerksam geworden?

Bei Recherchen im Vorfeld des Aufenthaltes wurden mir Gerüchte zugetragen. Es war die Rede von einem Club ohne Namen, ohne Internetpräsenz, ohne Zugang für Journalisten und Journalistinnen – dafür aber mit großen Ambitionen. Das hat mich neugierig gemacht. Über gemeinsame Freundinnen und Freunde konnte ich dann Kontakt mit den Betreiberinnen und Betreibern aufnehmen. Und nachdem denen klar wurde, dass ich nicht auf reißerische Headlines à la "Vice Magazin" aus war, die gerne slawische Stereotype mit Sex und Krieg vermengen, durfte ich den Prozess eine Zeit lang begleiten.

Den Begriff Technomaidan benutzen Sie auch in Ihrem Buch, und das ist ja ziemlich catchy. Wofür steht das denn? Ist das ironisch, oder steht das für eine Liberalisierung?

Eine gute Frage, denn der Begriff hat eine eigenartige Wandlung durchgemacht. Es gab 2014 die Proteste auf dem Maidan mit zahlreichen Toten, dann gab es aber auch Protestaktionen, bei denen Leute um den Innenstadtring gefahren sind und Straßen blockiert haben. Dafür hat man zum ersten Mal den Begriff Technomaidan verwendet – weil die laut Techno gespielt haben. Dieser Autokonvoi war der Anfang, danach hat sich das Wort selbstständig gemacht. Plötzlich gab es ein neues Narrativ: Westliche Medien berichteten dann gerne von Raves, unter anderem ging es da um die legendären Cxema-Parties. Es wurde suggeriert, dass die Menschen in der Ukraine sich ihre Freiheit ertanzten, dass ausschweifende Partys geholfen hätten, das Regime von Wiktor Janukowytsch zu stürzen. Dabei waren es ganz normale Leute, jung und alt, aus allen Schichten, die während des Euromaidan ihr Leben riskiert haben, damit ihr Land in Freiheit und Selbstbestimmung existieren kann. Eine Verzerrung der Tatsachen für sexy Headlines.

Dazu passt, dass Sie in ihrem Buch auch über die Bürde westlicher Projektionen schreiben, könnten Sie das erläutern?

Grob gesagt ist der Grad an Empathie gegenüber den Problemen anderer Menschen höher, wenn man sich mit ihnen identifizieren kann. Deswegen blieben die Vergleiche mit dem britischen Second Summer of Love in den Thatcher-Jahren und den Loveparades im Berlin der 90er so gut beim westeuropäischen Publikum hängen. Das ist natürlich legitim, birgt aber die Gefahr einer falschen Aufmerksamkeit. Jene Aufmerksamkeit, die statt Solidarität zu fördern, durch reißerische und voyeuristische Vereinfachung lediglich Stereotypen und Klischees bedient.  

Das ist eine gefährliche Haltung. Das kann in einem fetischisierenden Blick enden.

Das ist der Punkt. Man könnte argumentieren, dass die Ukraine – aus westeuropäischer Sicht – nahe genug ist, dass man Empathie empfindet und gleichzeitig weit genug weg, dass sie den Kitzel des Fremden in sich trägt. Das macht es für den Konsumenten natürlich unendlich bequem.

In Ihrem Buch zitieren Sie auch Mark Fisher. Der britische Kulturtheoretiker schreibt oft über die Zukunft, oder genauer, den Verlust von Utopien. Wie hat man sich in Kiew die Zukunft vorgestellt?

Mark Fisher sprach ja von einer unsichtbaren Barriere, die unser Denken und Handeln einschränkt. Genau das können wir uns im Fall der Ukraine nicht leisten. Die Zukunft hieß und heißt immer noch ganz klar Europa. Ein guter Teil der Aufbruchstimmung der letzten Jahre lässt sich sicher auf die europäische Perspektive zurückführen, und das Assoziierungssabkommen mit der EU und die Visa-Erleichterungen waren wichtige Triebfedern des Wandels. Das hat sich mit der Invasion Russlands nun natürlich grundlegend geändert. Was jetzt kommt, weiß niemand. Aber die Hoffnung, Teil der europäischen Völkerfamilie zu sein, in Freiheit und Selbstbestimmung, lässt sich nicht wegbomben.