Vergessene Kunst der DDR

Der ostdeutsche Phantomschmerz

Kunst am Bau aus der DDR wurde nach der Wende oft ignoriert oder zerstört. Der Architekt und Fotograf Martin Maleschka kämpft für ihren Erhalt, denn viele Werke drohen zu verfallen. Eine Spurensuche in Magdeburg

Es ist ein dreieinhalb mal neun Meter großer Schatz, der jahrzehntelang hinter der Wand im McDonald's schlummerte. Täglich kauften die Magdeburger hier Big Macs und Pommes und wussten dabei nicht, dass etwa 23 gemalte Personen ganz in ihrer Nähe auf ihre Freilegung warteten. Von der Fastfood-Kette geblieben sind heute nur noch die Pommes, auf rot-gelbe Werbeplakate gedruckt, und ein paar Kabel, die wie ausgerupft von der Decke hängen. Der monumentale Raum gehört jetzt wieder ihm, dem Wandbild des DDR-Künstlers Manfred Kandt.

Es war für viele eine kleine Sensation, als das Werk Ende 2022 bei Bauarbeiten wegen der Schließung der McDonald's-Filiale im Magdeburger Zentrum entdeckt wurde. 30 Jahre Verstecktsein haben Spuren hinterlassen: Große weiße Löcher klaffen heute in den blassen Farben des Bildes. "Das tut ja schon beim Hingucken weh!", sagt Martin Maleschka. Er ist Architekt und Fotograf aus Eisenhüttenstadt und hat sich zum Ziel gesetzt, Kunst am Bau der ehemaligen DDR zu dokumentieren und vor dem Verfall zu bewahren.

Jetzt steht er im ehemaligen Café Stadt Prag in Magdeburg, das nach der Wende zur Fast-Food-Kette umfunktioniert wurde. Er scheint hin- und hergerissen von der durchlöcherten Entdeckung. "Das ist schon besonders, vor so einem Bild zu stehen, Manfred Kandts Arbeiten sind einfach hochkarätig", sagt er. "Aber vor so etwas einfach eine Wand zu schrauben – das ist echt böse." Für Maleschka ist die Verkleidung, die das Bild nach der Wende überlagert hat, symbolisch: "McDonald's, das Wahrzeichen der Marktwirtschaft des Westens breitet sich in der stalinistischen Architektur aus. Das Prag wird überdeckt von den USA. Da legt sich eine Wirtschaftsform über die andere und sagt quasi 'wir können‘s besser'".

"Irrglaube, dass jegliche Kunst der DDR politisch war"

Trotz alledem hat dieses Wandbild vergleichsweise Glück gehabt. Es wurde "nur" durchlöchert. Zahlreiche Bauten der ehemaligen DDR wurden mitsamt ihrer Kunst zerstört. Der Palast der Republik in Berlin ist der prominenteste Fall. Asbest-Befall war häufig ein sofortiger Abrissgrund, eine Sanierung wurde ausgeschlossen. Ersetzt wurde der Symbol-Bau der DDR durch das Humboldt-Forum; modernistische Glasfront wird preußische Prunkfassade.

"Es ist ein totaler Irrglaube, dass jegliche Kunst der DDR politisch war", sagt Maleschka. "Das ist in den wenigsten Fällen so. Natürlich gibt es Verwaltungsbauten, etwa in Eisenhüttenstadt, in denen ein riesiges Mosaik den Gast empfängt, wo in der Mitte ein junger Mann das kommunistische Manifest in der Hand hält und im Hintergrund eine große rote Fahne weht. Aber das ist ja kein Grund, sich nicht damit auseinanderzusetzen. Das ist unsere Geschichte und unser Erbe, das gehört zu uns. Und es muss, wie jede andere Epoche auch, zumindest teilweise erhalten werden – dafür kämpfe ich."

Das Werk im ehemaligen Café Stadt Prag zeigt eine fröhliche Weinernte-Szene. Neben Arbeiterinnen und Arbeitern spazieren dort auch Fasane, Hühner und Ziegen durchs Bild. Die Figuren scheinen beschäftigt vor sich hin zu werkeln, einige haben angehalten, um zu plaudern. Maleschka fotografiert die Szene von oben bis unten.

Versteckt im Hinterzimmer

Die Stadt Magdeburg ist voll von Kunst am Bau – vorausgesetzt man weiß, wo sie zu finden ist. Die Exkursion wird dort schnell zur Schatzsuche, bei der noch längst nicht alles entdeckt ist. Im oberen Geschoss des Café Stadt Prag beispielsweise vermutet Maleschka noch ein weiteres Bild. Dieses ist auf historischen Ansichtskarten zu sehen. Er hält es für nicht unwahrscheinlich, dass auch dieses Werk hinter einer der Wände schlummert.

Kunst am Bau befindet sich heute teilweise in Schächten oder in Hinterzimmern - verbannt in die Bedeutungslosigkeit. So auch bei einem kolossalen Glasfenster, das sich im traditionsreichen Hotel Ratswaage befinden soll. Maleschka möchte es ablichten und zumindest auf diese Art verewigen. Früher war es ein Wahrzeichen des Hotels, das lässt sich historischen Ansichtskarten entnehmen. Einige Tische mit eleganter weißer Tischdecke und luftige Korbstühle sieht man darauf vor dem strahlenden Buntglasfenster stehen. Heute sieht es dort etwas anders aus.

Maleschka stößt die Tür zum Spa-Bereich auf. Ein leichter Vanille-Duft und meditative Klänge lullen den Besucher ein. Das Fenster befindet sich in einer Ecke im heutigen Massagebereich des Hotels. Es lugt hinter einer Wendeltreppe hervor, um deren Geländer eine grell leuchtende Lichterkette rankt. Das bunte Glas scheint in unendliche Höhen zu ragen. Maleschka läuft die Stufen hoch; weiter als zum ersten Treppenabsatz kommt er jedoch nicht. "Was ist das denn jetzt schon wieder?" Er steht vor einer Gipswand, die die Treppe zerteilt. Sie wird damit unpassierbar. Eine Mitarbeiterin rät ihm, es über die obenliegenden Büros zu versuchen, sonst wisse sie auch nicht weiter. Von unten ist nur der erste Abschnitt des meterhohen Werkes zu sehen.

"Ein richtig eindrucksvolles Werk"

Maleschka klingelt also bei Kleinunternehmen, die ihren Sitz in den ausgebauten Räumen über dem Spa-Bereich haben. Es öffnet ihm die Pflegerin einer Altenhilfe-Station. "Ein Fenster? Keine Ahnung, wo das sein soll", sagt sie und schlurft den Gang entlang. "Hier ist so 'ne Tür, vielleicht ist es ja dahinter. Ich weiß aber gar nicht, ob die aufgeht." Sie schiebt eine Holzplatte, die an der Tür lehnt, zur Seite und drückt die Klinke runter. "Ah ist es das?" Maleschka nickt heftig.

Vor ihm erstrahlen die bleiumrandeten Formen des Magdeburger Künstlers Walter Bischof in kräftigem Rot, Blau, Gelb, Grün und Violett. Es ist ein Lichtspektakel, das den eigentümlichen Zwischenraum aus zertrennten Treppenabschnitten mit Wärme erfüllt. Eine Friedenstaube blickt den Fremden, der in diese abgeschlossene Zwischenwelt eingetreten ist, aus einem großen, blauen Auge an. "Wahnsinn", murmelt Maleschka "Das ist ein richtig eindrucksvolles Werk, und niemand sieht es hier." Leicht klopft er gegen das dünne Glas. Es scheint ganz leicht zu vibrieren und dabei zu knistern. "Da unten ist 'ne Baustelle, und der Bagger verursacht diese Schwingungen." Er zeigt auf ein kleines Loch in einem grünen Quadrat: "Hier ist auch schon was kaputt. Wenn hier was mit dem Fenster passiert, würde es vermutlich keinem auffallen."

Maleschka macht Fotos von sämtlichen Details des Buntglasfensters, von abstrakten Kühltürmen, einer Rakete, einem Kran – alles Symbole der Errungenschaften der DDR, die das 1959 erschaffene Werk anlässlich des zehnten Jahrestages des Staates darstellt. Erst fotografiert er mit der Kamera, dann mit dem Handy. Die Bilder lädt er anschließend auf seinem Instagram-Kanal hoch. Dadurch wird das versteckte Fenster doch noch für einige Menschen zugänglich.

"Eine Gesellschaft dokumentiert sich selbst durch ihre Bauten"

"Es ist schwierig mit der Kunst am Bau, denn sie ist im Gegensatz zu der freien Kunst funktionsgebunden. Ist der Bau weg, ist meist auch die Kunst weg", sagt Norbert Pohlmann. Er ist Gründer des Forum Gestaltung in Magdeburg, das noch bis Mitte April die Wanderausstellung "70 Jahre Kunst am Bau" beherbergt.

Die Ausstellung tourt seit zwei Jahren abwechselnd durch ost- und westdeutsche Städte. Zu sehen ist dort Kunst aus ganz Deutschland, auch längst abgerissene. "Eine Gesellschaft dokumentiert sich selbst durch ihre Bauten, und dabei ist Kunst am Bau ganz zentral", erklärt der Historiker. Viele Abrisse seien wie Narben in der Stadtgeschichte. An ihrer Stelle werden heute meist Neubauten errichtet, ganz ohne Bauschmuck oder Kunst. "Manchmal sind Leerstellen aber auch etwas Gutes. Man hat manchmal eben keine Antworten auf Fragen und lässt sie daher offen. Das kann auch wichtig sein, damit die nächste Generation diese Leerstelle füllen kann." Wenn es aber nach ihm ginge, sollte viel weniger abgerissen werden und die Kunst am Bau besser geschützt werden.

Martin Maleschka sagt, der Abriss vieler DDR-Bauten nach der Wende habe ihn bis heute geprägt und ihm einen Teil seiner Herkunft genommen. "Eines meiner bekanntesten Fotos ist das Bild eines Schwans an einer Fassade, von dem eigentlich nur noch der Hals zu sehen ist, der Rumpf ist ganz zerrupft. Es ist ein sterbender Schwan, er verfällt." Ein Sinnbild für viele Kunstwerke, so Maleschka. "Meine Heimat ist für mich Ostdeutschland, nicht Westdeutschland oder Deutschland. Ich fühle mich als Ostdeutscher", sagt er und lacht kurz.

Hilferufe per Mail

Er fotografiere und dokumentiere deshalb ausschließlich Kunst aus der ehemaligen DDR. Auch, weil ostdeutsche Kunst bis heute besonders bedroht sei: "Aus allen Regionen von Ostdeutschland bekomme ich Hilferufe per E-Mail. Ich werde gefragt, ob ich die Kunst dokumentieren und einordnen kann. Dabei mache ich häufig Bilder, die wehtun. Da siehst du richtig, wie diese Kunst malträtiert wurde. Zum Beispiel durch eine Sprossenwand, die einfach davor geschraubt wurde." Die Kunst, die noch erhalten ist, sei höchst gefährdet, so Maleschka.

Man spürt dem großen Mann mit dem schwarzen Bart eine Art Phantomschmerz an, wenn er über Kunst am Bau der DDR spricht. Ein letztes Mal schaut er über die Schulter zu dem Buntglasfenster, dann tritt er zurück in den Gang der Altenpflege-Station. Durch das blickdichte Milchglas der Tür schimmert kaum sichtbar ein Kaleidoskop aus Farben. Das Fenster scheint einem anderen Universum anzugehören. Es lagert dort verschlossen und vermutlich vergessen, bis das nächste Mal jemand die Tür öffnet und es zufällig entdeckt.