Lawrence Lek in Berlin

Die Sehnsucht der Maschine

Die Figuren von Lawrence Lek sind meist heimatlos, und sie sind selten Menschen. Die neueste Arbeit des Künstlers, die nun in einem verlassenen Berliner Kaufhaus zu sehen ist, erzählt von Transzendenz und KI

Der Begriff Sinofuturismus beschreibt einen vibe, etwas, das mit der Zukunft, High-Tech und Fernost zu tun hat. Wenn man aus einer Fußgängerstadt wie Berlin zum Beispiel nach Hongkong reist, kann man leicht einen Zukunftsschock erleben, als beträte man eine Science-Fiction-Welt, die andernorts schon längst Normalität ist. 

So oder so ähnlich hat es auch der Künstler Lawrence Lek einmal in seinem sinofuturistischen Manifest – das außerdem ein Videoessay ist – beschrieben. Sinofuturismus, heißt es dort, entzieht sich der Autorschaft. Das sei eine unsichtbare Bewegung und ein Gespenst, das schon in unzählige industriell gefertigte Produkte integriert ist. Es habe nichts mit Individuen zu tun, sondern mit vielfältigen, sich überschneidenden Menschen- und Warenströmen; eine Zukunft, die schon längst da ist. Eine Utopie ohne Ideale. 

Das gibt schon einen gewissen Eindruck, wo die Referenzen von Lawrence Lek liegen. Der 1982 geborene Künstler, der in London lebt und arbeitet, hat Architektur studiert und wird von der Galerie Sadie Coles vertreten. Gelegentlich begegnet man Leks Arbeiten in Gruppenausstellungen, wie zuletzt in "Hope", einer Schau über Zukunftserzählungen, die das Museion in Bozen gerade ausrichtet. Aber Leks Arbeiten sind raumgreifend, sie brauchen Platz.

Hang zum Gesamtkunstwerk

Den Hang zum Gesamtkunstwerk kann Lek in der LAS Art Foundation ausleben, die temporär ins Kranzler Eck, das ehemalige Kaufhaus am Bahnhof Zoo in Charlottenburg, gezogen ist. Auf drei Stockwerken erzählt der Künstler eine Geschichte, und man gerät in Versuchung, das Science-Fiction zu nennen. Es geht um Künstliche Intelligenz, autonom fahrende Autos: alles Dinge, die nicht sehr weit von unserer Lebensrealität entfernt sind. 

"Nox", so der Titel der von Carly Whitefield kuratierten Schau, wird erzählt von einem sprechenden, selbstfahrenden Auto der Enigma-Klasse, das die Kontrolle verliert, nachdem es auf einem Highway der Great Silk Road einem galoppierenden Pferd begegnet. Erzählt wird die Geschichte über Kopfhörer, die die Bewegungen der Besuchenden im Raum verfolgen. Je nachdem, wo man steht, bekommt man ein neues Kapitel erzählt. Die Szenografie ist spärlich, aber effektvoll. 

Im Erdgeschoss stehen Mercedes-Karossen herum, eine mit eingedrückter Motorhaube, als wäre der Wagen in die Rolltreppe des ehemaligen Karstadt-Sport gekracht. Videoarbeiten erzählen zentrale Stellen der Geschichte, der Raum ist abgedunkelt. In ultrascharfer HD-Grafik fährt das schwarze Auto über leere Highways, im Hintergrund ragen die Skelette von Hochhäusern in den Himmel. Schrott und Straßenstaub kontrastieren mit schimmerndem Lack und Nahaufnahmen von Autoreifen, deren Gummi fabrikneu aussieht. 

Eine neue Art von Installationskunst

Wenn man nicht so genau hinschaut, könnte man diese Arbeiten leicht für eine Autowerbung halten, nur, dass kein Mensch hinterm Steuer sitzt. Über die Kopfhörer spielt ruhige elektronische Musik, gelegentlich Pianostücke in Moll oder sehnsuchtsvolle Saxofonmusik, daneben ist das leise, beruhigende Geräusch von Regen zu hören. 

Ehrfürchtig hat Enigma das galoppierende Pferd in höchster Auflösung aufgezeichnet, seinen Speicher vollgeladen. Mithin ist das Gefährt unbrauchbar geworden. Beim Begriff unbrauchbar muss man aber innehalten. Denn: Geht es hier um ein Objekt, um einen Gebrauchsgegenstand, eine Person? Ist Enigma, überwältigt von der Schönheit des Pferds in der Staubwolke, zu ästhetischem Erleben fähig, und steckt hinter der Aufzeichnung der Drang, Kunst zu machen?

Am Ende von "Nox", das heißt, wenn die Besuchenden alle Etagen durchlaufen haben, gibt es noch die Möglichkeit zu interagieren und Enigma, sowie anderen selbstfahrenden Autos, bei der Genesung zu helfen. Videospiel-Elemente kommen bei Lek immer wieder vor. Und vielleicht haben wir es hier mit einer neuen Art von Installationskunst zu tun, eine, die fast bruchlose Umgebungen schafft, Geschichten erzählt und world-building betreibt. Für solche Umgebungen wurde einst der Begriff immersiv erfunden. 

Dualismus von Leib und Seele

Erlebnis, experience, ist das Schlüsselwort, weil "Nox" damit bestens ins Programm der LAS Art Foundation  passt. Als Auftakt hat die Stiftung – die bisher ohne festen Raum an verschiedenen Orten in Berlin ausstellt – eine große, AI-gestützte Videoarbeit von Refik Anadol gezeigt, im Kraftwerk Berlin. Anadol hat für frühere Werke mit dem Tech-Konzern Google zusammengearbeitet. Im vergangenen Sommer begann ein Langzeitprojekt von Alexandra Daisy Ginsberg. In einer Kooperation mit LAS und dem Museum für Naturkunde hat die Künstlerin einen Algorithmus geschrieben, der Pläne für Blütenpflanzen entwirft, sodass Beete auf dem Museumsvorplatz den Bedürfnissen von Bestäuben – Bienen zum Beispiel – entsprechen. 

Die ontologische Verwirrung von künstlichem Leben und Maschine fasziniert Cyberpunk-Narrative seit jeher, von "Blade Runner" (1982) über den Anime "Ghost in the Shell" (1995) bis zu Alex Garlands Film "Ex Machina" (2015). Aber Lek interessiert sich nicht für Dystopie – wie bei "Blade Runner" – und auch nicht für psychologisches Drama wie bei "Ex Machina". Beseelte Maschinen, Replikanten, Roboter mit Emotionen, autonome Fahrzeuge, für Lek sind diese Dinge vielleicht auch nur Nebensache. Denn stattdessen hantiert der Künstler mit einem viel älterem Dualismus, nämlich dem von Leib und Seele. 

Enigma 76, Hauptfigur und erzählendes Auto von "Nox", ist nur eine heimatlose Inkarnation, als wäre die Karosserie der, nunja, sterbliche Körper für einen selbstfahrenden Algorithmus. Enigma wird nach dem Arbeitsspeicher-Burnout gesundgepflegt und in die Nox-Zentrale gebracht – deren Gebäude eine computergenerierte Kopie des Kranzler Ecks ist. Als das nicht hilft, begleitet ausgerechnet ein Pferd den Wagen zum Autofriedhof. Pferd und Motor, zwei Arten der menschlichen Fortbewegung, beide auf ihre Art fest in der Kultur verankert, treffen sich. 

"Das Sein ist nur geliehen"

Auch das Auto geht den Weg alles Sterblichen, darauf folgt, so kann man vermuten, die Reinkarnation. An diesen Stellen ist Leks Arbeit vielleicht am stärksten, wenn sie die flüchtige Transzendenz und das Spirituelle sucht: "Wer alleine fährt, fährt für Gnade", sagt die Erzählstimme, und dann: "Das Sein ist nur geliehen." Seelenwanderung ist kein neues Motiv bei Lek. "Nepenthe Zone" (2022), eine Videoarbeit, die Ruinen von Palästen und Museen rekonstruiert, ist benannt nach dem Elixier des Vergessens, das Tote in der Unterwelt der griechischen Mythologie erhalten. 

Der Künstler bettet seine Werke in umfassende Installationen ein, mit Musik, Mobiliar und Bewegtbild, beinahe so, als sollten Betrachtende selbst ein bisschen Seelenwanderung erleben. In Leks Welten kommen keine Menschen vor. Sie sind bloß ein fernes Echo derjenigen, die einmal Künstliche Intelligenzen in Bewegung gesetzt haben, und jetzt sind es die Maschinen, die Sehnsucht nach transzendenten Erfahrungen haben.