Künstler Leon Kahane

"In der DDR gab es im Grunde keine Erinnerungskultur"

Der Künstler Leon Kahane setzt sich mit seiner Familiengeschichte, dem NS-Erbe und dem jüdischen Leben in der DDR auseinander. Hier spricht er über verordneten Antifaschismus und die Aushöhlung von Solidarität 


Herr Kahane, Sie waren bei der Wende erst vier, fünf Jahre alt. Dennoch sind die DDR und ihre Geschichte ein wesentlicher Bestandteil Ihrer Arbeit. Das ist auch biografisch bedingt, denn Ihre Großeltern gehören zu den Menschen, für die die Gründung der DDR mit Hoffnung verbunden war. Zu dieser Zeit kamen viele der Exilanten und Überlebenden aus den Lagern wieder, auch viele deutsche Juden und Leute aus der Kultur, die die DDR als das neue Deutschland aufbauen wollten. Dazu gehörten auch die Kahanes.

Ja, das kann man so sagen. Ich glaube, für meine Großmutter Doris wäre Frankreich die nähere Wahl gewesen. Aber da mein Großvater Max als Journalist und Korrespondent auf Deutsch geschrieben hat, wurde es die DDR. 

Ihre Großmutter war bildende Künstlerin. Es gibt eine spannende Geschichte, die Sie auch in Ihrem Werk reflektieren. Doris Kahane hatte ein großes Wandrelief für eine Ausstellung in Delhi produziert. Ein Mosaik im Stil des Sozialistischen Realismus, ein Stil, wie man ihn heute noch am Haus des Lehrers in Berlin sehen kann. Es trug den Titel "Vom Ich zum Wir".

Sie hat dieses Mosaik angefertigt, und zwar für die "Dritte Welt-Landwirtschaftsausstellung", die 1960/61 in Delhi stattfand. Mit diesem Bild habe ich mich beschäftigt. Zum einen wegen des Titels "Vom Ich zum Wir", der viel über das Verhältnis von Individuum und Kollektiv aussagt. Und auch über das Verhältnis, das Künstlerinnen und Künstler zum Staat einnehmen sollten. Als bildende Künstlerin einen Staat auf einer Landwirtschaftsmesse zu vertreten, wäre heutzutage eher ungewöhnlich. Das findet eher in totalitären oder autoritären Regimen statt. 

In der Regel dort, wo der Kunst eine erzieherische Rolle zugemessen wird. Otto Grotewohl, einer der Gründerväter der DDR, der mit auf dem Eröffnungsfoto der Messe in Delhi ist, machte die Vorgabe, "die Kunst habe der Politik zu folgen". Während man im Westen die Freiheit der Kunst proklamierte, hatte sie im Osten eine gesellschaftliche und politische Funktion?

Otto Grotewohl, der erste Ministerpräsident der DDR, hat schon in den 1950er-Jahren die Losung herausgegeben, die Kunst und die Literatur hätten der "politischen Marschrichtung des Sozialismus" zu folgen. Damit war schon sehr schnell klargestellt, welche Rolle Kunst und Literatur haben, nämlich eine vor allem politisch-repräsentative. Ich habe letztes Jahr im Jüdischen Museum Berlin in einer Ausstellung über jüdisches Leben in der DDR eine Reproduktion dieses Wandbildes meiner Großmutter gezeigt. In Originalgröße, aber basierend auf einem Foto, das damals ganz klein im "Neuen Deutschland" abgedruckt wurde. 

Das Original gibt es nicht mehr?

Nein, das gibt es nicht mehr. Es wurde nach der Ausstellung wahrscheinlich zerstört. Davon gibt es interessanterweise nur noch ein Element, nämlich einen Kopf, der es nicht in das Bild geschafft hat. Den habe ich auch gezeigt. Als den letzten Überlebenden dieses Wandbildes. Und das ist natürlich auch im Stil des sozialistischen Realismus gehalten, inklusive der Agrarromantik. Dazu habe ich Videomaterial benutzt, das meine Großeltern in Indien aufgenommen haben, was sehr ungewöhnlich ist, teilweise sogar Farbbilder. Auf einem dieser Videos sieht man die Ankunft Grotewohls mit einer Delegation der DDR. Die erste Delegation der DDR in Indien. Sie besuchte das Grab Mahatma Gandhis. 

Was macht das mit einer Künstlerin? Oder mit einem Schriftsteller? Wenn man in einem System lebt, das Künstlerinnen und Künstlern vorgibt, sich der Politik unterzuordnen? Hatten Sie die Chance, mit Ihren Großeltern über dieses Verhältnis zu sprechen?

Mit meiner Großmutter konnte ich darüber nicht sprechen, weil sie schon 1976, mit 56 Jahren, an Krebs gestorben ist. Ich hätte natürlich wahnsinnig gern mit ihr darüber gesprochen. Was meinen Großvater und viele andere Biografien angeht, spielt der Begriff der kognitiven Dissonanz sicherlich eine große Rolle. Du kommst aus einer Lagererfahrung, Widerstandskampf oder Verfolgung und bist eigentlich nur durch Glück dem sicheren Tod entgangen. 

Vielleicht auch mit Schuldkomplexen beladen, dass du überlebt hast und deine Schwester oder dein Genosse nicht …

Genau, diese Geschichten gibt es auch. Und dann will man natürlich als Erstes leben. Mein Großvater hat gesagt, der 8. Mai 1945 war der schönste Tag seines Lebens, und dass sein Leben eigentlich erst danach begonnen hätte. Mit 35! Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Nach diesen Erfahrungen fängt man nicht an, alles grundsätzlich infrage zu stellen. Ich muss aber auch sagen, dass er mit vielen Dingen, die in der DDR politische Maxime waren, nicht einverstanden war. Zum Beispiel mit dem ziemlich ungebrochenen und unhinterfragten Antizionismus. Dem hat er sich gar nicht verschrieben. Das ist das eine. Das andere ist, dass er sehr schnell versuchte, Außenkorrespondent zu werden. Deshalb war er in Delhi und hat von dort aus gearbeitet. Dadurch hat er natürlich eine gewisse Distanz zur DDR einnehmen können.

In der jüdischen Community der DDR waren viele Kommunisten und Sozialisten. Sie waren also säkular. Zur kognitiven Dissonanz gibt es eine Anekdote von Gregor Gysi, dessen Vater Klaus ein paar Jahre Kulturminister der DDR war, und der auch aus einer jüdischen Familie stammt. Als Ägypten und Syrien 1973 Israel überfielen, der Jom-Kippur-Krieg, gab es ein Statement der SED, in dem die israelische Aggression verurteilt wurde. Dieses sollten alle jüdischen Personen des öffentlichen Lebens in der DDR unterschreiben. Und der Sohn fragte den Vater, der die Shoah überlebt hatte und der von diesem Staat überzeugt war, woher die denn wüssten, dass sie jüdisch sind. "Haben die Listen?" Wie war das jüdische Leben in der DDR organisiert? 

Was ich zu diesem "Sich-Verhalten" sagen kann: Es gab tatsächlich eine Unterschriftenliste, ein Statement jüdischer Bürger der DDR, das viele Künstler, Journalisten und Schriftsteller verweigert haben zu unterschreiben. Einer davon war mein Großvater. Dieses Statement war in seiner ganzen Sprache hochgradig antisemitisch. Auch, dass man das im Namen der jüdischen Bürger verfasst hat, erinnert mich an einige offene Briefe der Gegenwart. Das Verständnis des Judentums war in der DDR extrem verkümmert. Auf der anderen Seite waren Biografien wie die meiner Großeltern unheimlich wichtig für den Mythos der DDR als antifaschistischem Staat. Und somit auch, um nicht über das Verhältnis zur NS-Nachfolgegesellschaft nachdenken zu müssen. Dieser Missbrauch hat sicherlich auch für Privilegien gesorgt. Aber diese Privilegien waren vergiftet und hatten einen Preis. Man kann sich vielleicht vorstellen, wie prekär das jüdische Leben war und wie sehr es an eine politische Botschaft der DDR gebunden war. Sowas kann immer sehr schnell kippen.

Es ist ein bisschen von Gnaden der Herrschenden, auch wenn die Leute als Sozialisten natürlich vom Staat überzeugt waren. 

Ja.

Auch in der DDR hat man nach 1945 weder Richter noch Staatsanwälte oder Lehrer – diesen ganzen Mittelbau aus Beamten – ausgetauscht. Das ging nicht, weil man nicht schnell genug nachausbilden konnte. Stattdessen tauschte man die Führungsebene aus. Und von hier konnte man dann gut vom Osten auf den Westen zeigen. Wir sind die Guten und da drüben bei Adenauer sitzen die Faschisten. Und in Österreich auch. Waren die jüdischen Leute in der DDR Kronzeugen für diese eigene antifaschistische Erzählung? 

Das war ihre Rolle. Manche haben diese Rolle aus Überzeugung ausgefüllt, andere haben sie irgendwie verweigert. Andere haben sich arrangiert. Viele sind auch geflohen. Es gab 1953 schon eine große jüdische Ausreisewelle aus der DDR. In der DDR gab es im Grunde keine Erinnerungskultur und keine wirkliche Aufarbeitung. Der Umgang mit der eigenen Geschichte kulminierte in einem Begriff, der gerade wieder Konjunktur hat, nämlich dem Begriff der Universalisierung. In der DDR hatte man den Faschismus in Gänze überwunden. Die neuen Faschisten verortete man in Israel und in Amerika und hat so relativ nahtlos an zentrale ideologische Elemente des Nationalsozialismus anknüpfen können und sie insofern auch nicht aufarbeiten müssen. Man war plötzlich Teil einer Welt, in der Amerika oder der Westen der Klassenfeind waren. Das war beim Nationalsozialismus auch schon so. Man musste also an vielen Stellen gar keine Brüche vollziehen, sondern nur den Bruch mit der eigenen Schuld, der eigenen Geschichte. Unter diesem Bruch haben sich dann die Kontinuitäten gebildet.

Aus dem Selbstverständnis der Kommunisten liest sich: Wir waren in den Lagern, wir sind auch ermordet worden. Und die Sozialdemokraten, die Schwulen, die Juden auch. Der Begriff Universalisierung macht all diese Erfahrungen gleich. Aber dieser Begriff nivelliert auch die unterschiedlichen Motive der Nationalsozialisten und wer wann und warum abgeholt wurde.

Ja, man hat es auch daran gesehen, wie damit in den Gedenkstätten umgegangen wurde. Und man sieht es auch heute. Es gibt immer noch eine spezielle Erzählung, die weiter wahnsinnig attraktiv ist und immer attraktiver wird. Man sieht das jetzt an einem konkreten Fall: Am 11. April dieses Jahres war der 80. Jahrestag der Befreiung des Lagers Buchenwald. Die Lager, die auf dem Gebiet der späteren DDR waren, haben eine Universalisierungs-Erzählung, die den Fokus ganz stark auf die kommunistischen Widerständler legt, auf die Selbstbefreiung und so weiter. Die Juden hatten dort, über die ganze DDR hinweg, eigentlich keinen Raum. Und das ist etwas, was gerade wieder Konjunktur hat.

Es gab also diese Kontinuitäten. Der akademische Mittelbau war gewendet und an die neuen Verhältnisse angepasst. Die DDR Erzählung lautete: "Wir sind die Antifaschisten und nicht das Problem." Im Gegenteil, "wir haben das Problem gelöst." 1989 brach dieser Staat zusammen, und mit ihm all diese Diskurse und Erzählungen über sich selbst. Es folgten auch die "Baseballschläger-Jahre", wo plötzlich ein rassistischer, völkischer Mob auf den Straßen erschien. "Huch, wo kommen die so schnell her?" - so die öffentliche Wahrnehmung. Und gleichzeitig gab es ein neues jüdisches Leben, auch eine jüdische Immigration, darunter viele, die aus Osteuropa hier nach Berlin kamen. Die Synagoge wurde wieder in alter Pracht aufgebaut. Es gab einen Aufbruch. In Ihrer Arbeit identifizieren und beschäftigen Sie sich damit. Wie war das im Übergang aus der DDR in die BRD? 

Warum wird in den sogenannten "neuen Bundesländern" so viel AfD gewählt? Meines Erachtens hat das mehr mit der versäumten Aufarbeitung zu tun als mit der Transformationserfahrung der Wende. Die Leute dort fühlen sich von etwas "gegängelt", was sie mit ihrer eigenen biografischen Realität nicht in Einklang bringen können. 

Von was?

In der DDR gab es einen Widerstand gegen den von oben angeordneten Antifaschismus, der sich in einer symbolischen Hinwendung zum Rechtsradikalismus ausdrückt. Zum Beispiel Punks, die Landser gehört haben. Es gibt vor allem in den "neuen Bundesländern" eine unheimlich starke Versuchung, eine neue Freiheit in der Unfreiheit zu finden. Man schwenkt dann Putin-Flaggen, wählt die AfD und meint, dann wird alles super. Dieser Wille zur Autorität trägt eine ganz starke Grundmotivation in sich, nämlich die Schuldfreiheit. Wenn ein autoritäres Regime die Entscheidungen für einen trifft, dann trägt man selbst niemals die Schuld und kann immer sagen: "Die sind es, die sind schuld." 

Man hat einen klaren Feind?

Man hat einen klaren Feind, und das ist etwas, was gerade in der Kunst auch ein bisschen Schule macht. In der DDR lief das so, und nun soll man plötzlich selbst Verantwortung übernehmen. Auf dieser Ebene wird auch dieser universalistische Gedanke der DDR, der sich davon nicht trennen lässt, wieder attraktiv. Denn da ist man nicht nur unschuldig, man ist irgendwie auch Opfer und nicht mehr Teil des Systems.

Und es kommen diese Zombies aus der Vergangenheit, die nie weg waren. Auf der letzten Documenta wurde das große Banner von Taring Padi gezeigt, auf dem "Stürmer"-mäßige, alte antisemitische Klischees untergebracht wurden, um den Staat Israel und seine Politik zu kritisieren. Von hier bis zu der Debatte nach dem Jom-Kippur-Krieg in der DDR: Immer wieder kommen diese antisemitischen Klischees hoch.

Ja, ich würde das mit dem Banner ein bisschen anders beschreiben. Für mich ist interessant, dass ich mich so stark an eine Formensprache oder eine Ästhetik des Sozialistischen Realismus erinnert fühle. Der Realismus ist nie die Realität, sondern bildet immer eine Idealgesellschaft ab. 

Also?

In dieser Form der Abbildung kann man sich natürlich wunderbar in einen Zustand versetzen, wo Gut und Böse klar definiert sind und die eigene Schuld vom Selbst abgetrennt wird. Das ist es, was eigentlich auf dem Banner stattfindet. Dann wird sehr klar, wer böse ist und wer nicht. Da sind wir nun wirklich bei der Botschaft der DDR, und dazu gehört dieser spezielle Universalismus. Dazu gehört auch, dass sich Begriffe wie Solidarität und Kollektivität aushöhlen, die schon damals sehr prominent benutzt wurden. Sie wirken trotz ihrer Wichtigkeit und Bedeutung plötzlich unwichtig, sind nur noch eine Form der Selbstrepräsentation. Damit muss man sich als Künstler beschäftigen. Es geht nicht darum, einzelne Leute vorzuführen, sondern darum, sich die Frage zu stellen, woher das kommt. Was hat das für eine Bildgeschichte? Was hat das für eine kulturelle Funktion? Und dann lässt sich auch besser begreifen, in was für einem Zustand wir uns gerade befinden. Das ist es, was mich letztlich auch künstlerisch daran interessiert. 

In den Jahren von Lenin war es noch der Konstruktivismus, eine abstrakte Form von Kunst. Der Realismus zog eigentlich erst mit Stalin in den Sozialismus ein. Ist dem Realismus immer auch etwas Autoritäres eingeschrieben? 

Ja, denn der Realismus hat vor allem einen ganz interessanten Effekt. Es lässt sich gut kontrollieren, wie die Leute denken. Im Banner von Taring Padi steckt zum Beispiel viel politisches Bekenntnis. Und auch etwas Quasi-Religiöses. Es entspricht im Aufbau wirklich einem Altarbild. Das Bild folgt dem Motiv des Jüngsten Gerichts. Es war auf der Documenta durchaus so, dass man gar nicht aussprechen musste, welche Kollektive oder Gruppen nicht teilnehmen sollen. Die Kodierungen auf dem Banner repräsentieren ein manichäisches Weltbild, das sich in der Art und Weise, wie sich bei der Documenta Kollektive gegenseitig gefunden und eingeladen haben, wiederfindet. Dann bleibt die Frage: Was schließt manche Kollektive aus? 

Ihre Antwort? 

Dass sie mit dieser Art der Weltanschauung qua Kultur nicht kompatibel sind.