"Memoria" von Apichatpong Weerasethakul

Zeit und Raum sind aus den Fugen

Humor, Daseinsangst und tiefe Trauer: Mit dem Spielfilm "Memoria" öffnen Regisseur Apichatpong Weerasethakul und Schauspielerin Tilda Swinton ein gewaltiges emotionales Spektrum. Jetzt läuft der Film auf Mubi

Es ist kein Tinnitus. Mehr ein Klang "wie eine Betonkugel, die am unteren Ende eines tiefen Schachts aufschlägt", so beschreibt Jessica das Geräusch, das sie quält und das niemand um sie herum zu hören scheint. Ein Echo aus einer grausamen Vergangenheit? Eine Erinnerung, die eigentlich nicht Jessica gehört?

Tilda Swinton spielt in "Memoria" diese seltsame, etwas desorientierte Europäerin, die es nach Bogotá verschlagen hat und die sich auf die Suche nach dem Ursprung eines Geräuschs begibt, das zu spezifisch ist, als dass Jessica das "Bong" als Hirngespinst abtun könnte. "Ich werde verrückt", sagt sie allerdings einmal zu einer Bekannten. Das wäre nichts Besonderes angesichts eines ziemlich verrückten Films, des ersten, den der bildende Künstler und Regisseur Apichatpong Weerasethakul außerhalb seiner thailändischen Heimat gedreht hat.

Die Verrücktheit von "Memoria" besteht nun nicht in einem totalen Delirium aus Bildern und Tönen (wie bei Steven Spielberg, dessen "Unheimliche Begegnung der dritten Art" Weerasethakul an zwei kurzen Stellen zitiert), sondern aus eher nüchternen Schilderungen von Jessicas Suchbewegungen und Begegnungen in einem ihr fremden Kolumbien. Eigenartig wird der Film durch die diskontinuierliche Montage und diverse logische Brüche. Schon der erste Schnitt des Films irritiert mit einem (gewollten) Anschlussfehler, wenn die durch ihr Kopfgeräusch aus dem Schlaf geschreckte Jessica nach links durch die Schlafzimmertür wankt und sich in der nächsten Einstellung von links nach rechts in den angrenzenden Raum bewegt.

An anderer Stelle unterbricht Weerasethakul die Kontinuität einer Szenenfolge und schiebt andere Begebenheiten dazwischen. Banale Unterhaltungen können in ihrer Verstrahltheit an die späten Filme von Luis Buñuel erinnern. Ungefähr in der Mitte von "Memoria" verschwindet eine Hauptfigur – der Tontechniker Hernán, den seine Arbeitskollegen nie gekannt haben wollen –, um im Finale dann von einem älteren Schauspieler übernommen zu werden, was aber nur deshalb als sicher gelten darf, weil beide Darsteller im Nachspann mit dem Rollennamen "Hernán Bedoya" verzeichnet sind. Zeit und Raum sind aus den Fugen, doch aufgrund der Schlichtheit der Erzählung wird uns das nur tröpfchenweise bewusst.

Der Zauberkasten liegt offen herum

Wie Weerasethakuls "Tropical Malady" (2004) oder "Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben" (2010) ist "Memoria" ein Fantasy-Film ohne viel Budenzauber. Wie in den früheren Werken beschwören die Gespenster der Gegenwartsebene eine gewalttätige Vergangenheit herauf: Das Geräusch, das Jessica vernimmt, könnte 6000 Jahre alt sein. Das zumindest legt eine Szene nahe, in der eine Anthropologin ihr die bei Ausgrabungen gefundenen Überreste einer jungen Frau zeigt. Im Schädel ist ein Loch, das vielleicht von einer Zeremonie herrührt, bei der böse Geister vertrieben werden sollten.

Weerasethakul hält stets eine gewisse Distanz zu Jessica und den anderen Figuren, sein Kameramann Sayombhu Mukdeeprom lässt viel Raum um die Darsteller herum. Die Landschaften und urbanen Schauplätze des Films werden zu Resonanzräumen, in denen wir uns umschauen, in die wir hineinlauschen dürfen. Weerasethakul schafft das Kunststück, sein Publikum in Trance zu versetzen, obgleich er eine ungewöhnliche Transparenz an den Tag legt, was seine filmischen Mitteln und Zutaten angeht. Der Zauberkasten liegt gleichsam offen herum.

In der Kunst und im Kino ist alles möglich

In einer Schlüsselszene setzt der Sounddesigner Hernán das „Bong“ aus dem Filmton-Geräuscharchiv für Jessica zusammen. Wie das akustische Pendant eines Phantomzeichners rekonstruiert er ein Profil, das Jessica dann als "ihren" Klang wiedererkennen kann. Andererseits stammt das "Bong" auf der "Memoria"-Tonspur natürlich aus dem Computer, womöglich wurde das Klangobjekt in exakt jenem Studio generiert, das wir im Film sehen. Von dieser Szene an ist es fast verschwenderisch häufig zu hören, mitunter scheint sich Weerasethakul sogar über die Verbindung von Bewegungen und Tönen lustig zu machen. In einer slapstickhaften Szene spielt Jessica förmlich mit der Kugel in ihrem Kopf herum.

Humor, Daseinsangst und tiefe Trauer über eine desolate Welt: Tilda Swinton erweist sich als ideales Medium für das gewaltige emotionale Spektrum dieses Films. Im Finale wird Jessica derart von Geräuschen und Stimmen heimgesucht, das man ihre Erschöpfung fast körperlich spürt. Kann es wirklich sein, dass Seelen wandern, dass sich Gedanken und Empfindungen von einem Hirn zum anderen übertragen? Können Brücken über Menschheitsepochen hinweg geschlagen werden? Ja, lautet Apichatpong Weerasethakuls Antwort, in der Kunst und im Kino ist all das möglich.