Verdrängung von Künstlern in Berlin

Abschied vom Ufer

Das Haus Paul-Lincke-Ufer 44A in Berlin-Kreuzberg war jahrzehntelang ein Anlaufpunkt für Kreative. Jetzt will eine Immobilienfirma Wohnungen daraus machen - und Dutzende Künstlerinnen und Künstler verlieren ihre Ateliers

Wenn man am Paul-Lincke-Ufer 44a in Berlin-Kreuzberg seinen Blick vom Landwehrkanal abwendet und sich durch den Hinterhof ins Ateliergebäude begibt, betritt man eine ganz eigene Welt. Die Wände im Treppenhaus sind voller Graffiti und das Ergebnis von Jahrzehnten der sprühfreudigen Besucherinnen und Besucher. In den Studios herrscht ein organisiertes Chaos. Man spürt, dass sich hier Kunstschaffende seit langer Zeit ausleben können. In jedem Raum sieht man die Geschichte des Gebäudes - und dass es offenbar von Künstlerinnen und Künstlern belebt und geliebt wird.

In Kreuzberg ist das Gebäude seit Jahrzehnten Sammelpunkt und Inspirationsquelle für Kreative. Der Schallplattenladen HardWax, seit 1996 am Paul-Lincke-Ufer, gehört zu den traditionsreichsten Plattenläden im Bereich der elektronischen Musik und hat großen Einfluss auf die lokale und internationale Techno-Szene. In den zahlreichen Ateliers im gleichen Gebäude können Künstlerinnen und Künstler zusammenarbeiten oder Workshops im Hinterhof veranstalten. All das soll jetzt allerdings ein abruptes Ende finden, wie es in Berlin immer öfter passiert. Die Immobilienfirma Cencore hat den Gebäudekomplex gekauft und allen Mieterinnen und Mietern fristlos gekündigt, um 34 neue (höchstwahrscheinlich hochpreisige) Wohneinheiten zu bauen. 

Die Bewohnerinnen und Bewohner haben noch bis April Zeit, ihr Leben und ihre Arbeit in Kisten zu packen und sich einen neuen Wohn- und Arbeitsplatz zu suchen – derzeit wahrlich kein leichtes Unterfangen in der Hauptstadt. Viele der Kunstschaffenden fürchten, dass sie nie wieder so einen Sinn für Gemeinschaft finden werden, wie sie ihn hier hatten. So sagt die Künstlerin Nayeli Vega, seit vielen Jahren Mitglied des Vereins Lacuna Lab: "Bei unseren Räumen ging es um das Gefühl der Gemeinschaft. Es war offen für Menschen, die Teil von etwas sein wollten".

"Die Gemeinschaften schützen und ihnen auch Chancen bieten"

Obwohl den Mietparteien von Anfang an klar war, dass keine rechtlichen Schritte die Kündigung verhindern können, haben sie auf Unterstützung von der Politik gehofft. So kontaktierten Anwohnerinnen und Anwohner beispielsweise auf verschiedenen Wegen den Bezirksstadtrat Florian Schmidt (Grüne) für das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg (Abteilung Bauen, Planen, Kooperative Stadtentwicklung), nach eigener Aussage erhielten sie jedoch nie eine Antwort. Auf Anfrage von Monopol erklärt das Bezirksamt, dass ein persönliches Gespräch aus terminlichen Gründen nicht möglich gewesen sei. Außerdem weist die Behörde darauf hin, dass die Mieterinnen und Mieter bereits 2019 mit einem für Immobiliensicherung zuständigen Mitarbeiter Kontakt hatten und ihnen außerdem zahlreiche öffentlich finanzierte Beratungsstellen zur Verfügung stehen würden.

Klaus Lederer (Linke), seit 2016 Berliner Senator für Kultur und Europa, schrieb einen Brief an die Immobilienfirma, in dem er sie aufforderte, ihre Pläne noch einmal unter Rücksichtnahme auf die Kunstschaffenden zu überdenken. Außerdem bot er sich als Mediator zwischen Cencore und den Mietern des Paul-Lincke-Ufers 44A an. Obwohl sein Bemühen keine Früchte trug und die Firma nicht auf seine Vorschläge einging, bekommt man bei persönlichen Gesprächen den Eindruck, dass seine Unterstützung von den Betroffenen geschätzt wurde.

Der Brief Lederers hat einen symbolischen Wert, jedoch kam er wohl zu spät. Die Mieterinnen und Mieter hätten nach eigener Aussage die Unterstützung der Politik in den Monaten und Jahren zuvor gebraucht, um ihr Dasein in Kreuzberg sichern zu können. Nayeli Vega hofft, dass die Politikerinnen und Politiker die Wichtigkeit von Kunst und Kultur in Berlin erkennen und "sich wirklich engagieren und ihre Arbeit tun, um die Gemeinschaften zu schützen und ihnen auch Chancen zu bieten".

"Wir als Künstler haben die Möglichkeit, laut zu sein"

Was die Kunstschaffenden vom Paul-Lincke-Ufer besonders stört, ist, dass Immobilienfirmen wie so oft in Berlin aus dem Schaden der Mieterinnen und Mieter Profit schlagen. Der Mechanismus ist stets der selbe: Viele der Kreativen sind einst nach Kreuzberg gekommen, um bei niedrigen Mieten leben und arbeiten zu können. Durch ihren künstlerischen Einfluss veränderte sich das Stadtbild, lockte immer mehr Cafés, Restaurants und Touristen an. Nachdem sie ihren Beitrag dazu geleistet haben, Stadtteile attraktiver zu machen, werden ihre Ateliers jetzt in teuren Wohnraum umgewandelt. Künstler Nahum, auch seit mehreren Jahren am Paul-Lincke-Ufer tätig, sagt: "Zuerst überlassen sie den Kunstschaffenden die Arbeit, ein Viertel attraktiver zu machen, dann übernehmen sie es und lassen die Arbeiter mit leeren Händen zurück. Das ist ungerecht."

Die gentrifizierten, und für die allermeisten Kunstschaffenden unerschwinglichen Flächen werden jedoch weiterhin mit dem kreativen Flair der Künstler beworben, die zuvor durch Mieterhöhungen Kündigungen aus der Gegend vertrieben wurden. So hat Cencore offenbar erwogen, die Wände mit Graffiti-Geschichte im Treppenhaus des Gebäudes zu erhalten und in ihr Bauprojekt einzubinden. Die bisherigen Mieterinnen und Mieter zeigen sich echauffiert darüber, dass ihre Werke instrumentalisiert werden könnten, während sie selbst ihre Arbeitsräume verlieren. Das Immobilienunternehmen hat auf eine Anfrage von Monopol bis Redaktionsschluss nicht geantwortet.

Obwohl es ihnen die Umstände und die Politik nicht leicht machen, sind sich viele der Kreativen am Paul-Lincke-Ufer sicher, dass es sich lohnt, um Raum für die Kunst in Berlin zu kämpfen. Nayeli Vega sagt, sie "möchte die Stadt immer noch schützen, denn sie ist wunderschön und voller Möglichkeiten". Sie sieht die Hauptstadt als vielfältig, offen und bunt genug, um weiterhin an das Potenzial Berlins zu glauben. Sie wollen sich deswegen nicht vertreiben lassen, sondern ihr Glück in anderen Vierteln  versuchen und dafür kämpfen, dass anderen Kunstschaffenden nicht das gleiche Schicksal wie ihnen widerfährt. "Wir als Künstler haben die Möglichkeit, laut zu sein, und die sollten wir nutzen".